»Multidirektionale Angriffe auf die Erinnerung« - es ist ein äußerst sperriger Titel, den die jüngste Broschüre der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (Rias Bayern) trägt. Was sich dahinter verbirgt, ist erschreckend. Denn das Heft hat Beispiele dokumentiert, die zeigen, dass die verbreitete Meinung, Deutschlands Erinnerungskultur beim Thema Holocaust sei ein Erfolgsmodell, zunehmend trügt.
Die Aufklärungsarbeit möge in der Wissenschaft noch funktionieren, sagte Felix Balandat von Rias Bayern, doch in den Familien nur vermeintlich. Privat werde zunehmend das eigene Leid beklagt, das die Vorfahren erlitten hätten, und gefordert, einen Schlussstrich unter die NS-Geschichte zu ziehen. Der Massenmord an europäischen Jüdinnen und Juden habe da kaum mehr Platz.
Juden und Jüdinnen sowie dem Staat Israel werde vielmehr vorgeworfen, Vorteile aus der Schoa zu ziehen und dabei ein schlechtes Gewissen von vielen Deutschen auszunutzen, heißt es in der Broschüre. Auch viele angehende Lehrkräfte verließen die Uni, ohne ein einziges Lehrangebot zur Schoa erhalten zu haben.
Kein Wunder, dass auch in Bayern der »Post-Schoa-Antisemitismus« auf dem Vormarsch ist. Der Antisemismus komme zum Ausdruck »nicht trotz, sondern wegen Auschwitz«, sagte Balandat am Mittwoch bei der Präsentation der Broschüre in München. So zeigte in der bayerischen Landeshauptstadt ein Securitymitarbeiter israelischen Sportlern, die sich auf dem Weg zu den Gedenkorten für das Olympia-Attentat von 1972 befanden, den Hitlergruß. Im Freistaat trugen Menschen auf den Corona-Protestveranstaltungen gelbe Sterne, oft mit der Inschrift »ungeimpft«. Auf diese Weise setzten sie sich mit den verfolgten Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus gleich.
Seit Jahrzehnten gehören außerdem Angriffe auf Gedenkstätten zum Alltag. Auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Lagerkomplexes Kaufering etwa wurden auf einer Schautafel ein Hakenkreuz und der Satz »Bitte komm zurück« hinterlassen. Solche und andere Beispiele führt das aktuelle Heft auf und nennt Zahlen: Seit dem Frühjahr 2019 wurden demnach 3 Angriffe, 35 gezielte Sachbeschädigungen, 16 Bedrohungen, 79 Massenzuschriften und 437 Fälle verletzenden Verhaltens, darunter 183 Versammlungen, registriert. Es sind jene Vorfälle, die Rias gemeldet wurden. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.
Was es heißt, immer wieder persönlich mit Antisemitismus konfrontiert zu werden, davon kann Eva Umlauf erzählen. Die bald 80 Jahre alte Kinderärztin wurde einst im Arbeitslager Novaky geboren und überlebte als Kind Auschwitz. Seit 1967 ist sie mit ihrer Familie in München zuhause. Als Rias Bayern 2019 öffnete, sei sie eine der »ersten Kundinnen« gewesen, um einen Vorfall zu melden, erzählte Umlauf. Innerhalb kurzer Zeit sei damals dreimal in den Reifen ihres Autos in der gemeinschaftlichen Tiefgarage ein Nagel gesteckt worden. Einmal fand sie im Briefkasten ein anonymes Schreiben. Darin: ein Zeitungsartikel mit der Überschrift »Wollen Sie Juden als Nachbarn haben?«.
Auch einer der Söhne musste sich vor gut 20 Jahren im Gymnasium von einem Neonazi aus gutem Hause als »Scheiß Jude« titulieren lassen. Nicht der Junge verriet es ihr, sondern einer seiner Freunde. Sie überlegte länger, ob sie zum Direktor gehen sollte. Der glaubte es anfangs nicht und ließ dann nachforschen. Die Demütigung, sich vor der ganzen Klasse zu entschuldigen, ersparte Umlauf dem Mitschüler; es reichte ihr, dass er es ihrem Sohn gegenüber in der Pause machte.
Bisweilen gibt es aber auch positive Begegnungen. An einem warmen Sommerabend sei sie vor einigen Jahren mit Freunden in der U-Bahn unterwegs gewesen und hielt sich an einer Stange fest. Die Blicke eines jungen Mannes mit zwei Tennisschlägern im Gepäck richteten sich immer wieder auf sie. Auf einmal fragte er Umlauf: »Steigen Sie jetzt aus?« Sie verneinte. Dann sagte ihr Gegenüber: »Ich möchte mich für meine Vorfahren entschuldigen, dafür, was sie Ihnen angetan haben.« Auslöser war die von den Nazis eintätowierte Nummer an ihrem Arm für KZ-Insassen gewesen, die der junge Mann entdeckt hatte.