Berlin

Angriff mit Ansage

Im Herzen von Berlin: Am Rosenthaler Platz in Mitte wurde der jüdische Student zusammengeschlagen. Foto: picture alliance/dpa

Noch ermittelt der Berliner Staatsschutz, was genau in der Nacht auf Samstag am Rosenthaler Platz vorgefallen ist. Aber die Folge wird wohl keine Behörde mehr anzweifeln: Am Ende liegt ein jüdischer Student blutend auf dem Asphalt, seine Nase ist gebrochen, auch an Augenhöhle und Wangenknochen findet man später Frakturen.

Ein Krankenwagen bringt ihn in eine Berliner Klinik, er muss operiert werden. Es ist der schwerste Angriff auf einen Juden in Deutschland seit Jahren. Und eine neue Eskalationsstufe des israelbezogenen Antisemitismus, der sich seit dem 7. Oktober im Umkreis der Berliner Universitäten ausbreitet.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Der Rosenthaler Platz ist eine belebte Kreuzung in Berlin, zwei Tramlinien fahren darüber, unten rollt die U-Bahn. Am Wochenende kann man in den Bars durchfeiern, an der Ecke gibt es bis fünf Uhr morgens Döner. Als der 30-jährige jüdische Student in der Nacht zum Samstag hier von einem 23-Jährigen zu Boden geschlagen und ins Gesicht getreten wurde, müssen es etliche Menschen mitbekommen haben.

Nun aber, an einem stürmischen Montagnachmittag, will niemand etwas gesehen haben. Der Döner-Verkäufer, die Späti-Besitzer, die Rezeptionisten im Hotel gegenüber: Sie alle winken ab. In einer Bar schließlich nickt ein Kellner. Sein Chef habe dem Verletzten Eis zum Kühlen nach draußen gebracht. Vorher habe es eine »laute Auseinandersetzung« auf der Straße gegeben.

Im Lokal zwei Häuser weiter ist man vorsichtiger: »Sind Sie von der Presse?«, fragt der Manager. Dann wolle er lieber nichts sagen. Am Rosenthaler Platz scheint sich herumgesprochen zu haben, dass hier nicht einfach ein Betrunkener aggressiv geworden ist. Der Fall hat politisches Gewicht. Und eine Vorgeschichte.

Jüdische Studierende, die sich gegen die Hetze auf dem Campus wehrten, erhielten Drohungen.

Der Attackierte heißt Lahav Shapira, er ist 30 Jahre alt und studiert an der Freien Universität zu Berlin. Nach dem 7. Oktober ist er dort Teil einer losen Gruppe von Studierenden geworden, die sich gegen die propalästinensischen, oft israelfeindlichen und antisemitischen Aktivitäten auf dem Campus zur Wehr setzten: Sie organisierten Gegenproteste und Mahnwachen. Sie trafen sich mit dem Universitätspräsidenten und forderten einen besseren Schutz von jüdischen Studierenden.

Anfang Dezember dann besetzten propalästinensische Gruppen einen Hörsaal an der Universität. Die Aktion landete in den Schlagzeilen, weil jüdischen Studierenden zunächst der Zugang verweigert wurde. Auch Lahav Shapira versuchte vergeblich, in den Saal zu kommen und später Poster der entführten israelischen Geiseln aufzuhängen. Die Besetzer stellten sich ihm in den Weg. Dabei kam es zu Rangeleien, jemand filmte und stellte einen Zusammenschnitt auf Instagram.

»Gewaltbereiter Provozierer« und »rechter Zionist«

Mehr als 100.000 Menschen haben sich das Video angesehen, auf dem es wirkt, als habe vor allem Shapira andere geschubst. Seitdem gilt er in der propalästinensischen Szene als »gewaltbereiter Provozierer« und »rechter Zionist«. »Merkt euch sein Gesicht«, schrieb einer auf X. Jüdische Studenten, die auf dem Video zu sehen sind, berichteten, sie hätten danach Drohanrufe und Nachrichten erhalten. Die lose Gruppe wurde zur Zielscheibe. Und Lahav Shapiras Gesicht so oft geteilt, dass er möglicherweise in der Nacht zum Samstag von seinem Angreifer deshalb erkannt wurde.

Lahav Shapiras Begleiterin an dem Tatabend schildert die Szene später gegenüber israelischen Medien und in der ZEIT: Als sie gemeinsam die Bar verließen, sei ihnen ein Mann gefolgt. Dieser habe Shapira auf sein Engagement an der Uni angesprochen, ihn also erkannt und dann auf der Straße unvermittelt mehrmals ins Gesicht geschlagen. Lahav Shapira gab in einem Interview mit dem israelischen Fernsehsender N12 an, der Täter habe ihm, schon am Boden liegend, ins Gesicht getreten und sei dann geflüchtet.

In einer ersten Polizeimeldung hieß es, dem brutalen Angriff sei ein Streitgespräch vorausgegangen. Ein Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft stellte am Dienstag gegenüber dem »Tagesspiegel« klar, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass der Geschädigte in irgendeiner Weise zu einer Eskalation beigetragen oder gar einen Angriff provoziert habe.

Eine Polizeisprecherin bestätigte der Jüdischen Allgemeinen, Beamte hätten den Tatverdächtigen aufgrund der Hinweise des verletzten Lahav Shapira identifizieren und in seiner Wohnung aufsuchen können. Das legt nahe, dass auch Shapira seinen Angreifer erkannte. Die Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen inzwischen aufgenommen hat, schließt nicht aus, dass sich die beiden bereits bei der Hörsaalbesetzung begegnet sind.

Doch wer ist der Tatverdächtige? Der Jüdischen Allgemeinen liegt der von den Behörden bestätigte, arabische Name vor. Der 23-Jährige hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Er wurde von der Polizei in seiner Wohnung in Berlin angetroffen, aber nicht festgenommen. Die Beamten haben sein Handy beschlagnahmt, die Ermittlungen dauern an. Sein Anwalt bestätigte, dass er sich zunächst nicht zu den Vorwürfen äußern werde. Bis Redaktionsschluss konnte die Staatsanwaltschaft nicht sagen, ob der Tatverdächtige tatsächlich ebenfalls an der FU immatrikuliert ist. Die bisherigen Ermittlungen deuteten aber darauf hin.

Relativierung der Tat auf Social Media

Nach dem Angriff auf Shapira relativierten propalästinensische und mit Unigruppen in Verbindung stehende Personen auf Social Media die antisemitische Tat. Shapira sei nicht als Jude, sondern wegen seiner zionistischen Ansichten angegriffen worden, hieß es dort zum Beispiel. Der Account eines palästinensischstämmigen Berliners mit beinahe 30.000 Followern veröffentlichte ein Foto von Shapira mit Teufelssymbolik und dem Sound des Liedes »Devil«. Währenddessen liegt Lahav Shapira weiterhin schwer verletzt in einem Berliner Krankenhaus.

Selbst nach dem Angriff wird der verletzte Shapira als Täter diffamiert.

Es ist nicht das erste Mal, dass Shapira und seine Familie in Deutschland zur Zielscheibe antisemitischer Angriffe wurden: Nachdem die Mutter mit ihren zwei Söhnen aus Israel nach Sachsen-Anhalt gezogen war, wurde Lahav dort als Jugendlicher von Rechtsextremen überfallen. Sein Bruder, der Berliner Comedian Shahak Shapira, wurde 2015 Opfer einer brutalen Attacke in der Berliner U-Bahn. Der Großvater der Brüder, Amitzur Shapira, wurde 1972 beim Anschlag auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen in München von palästinensischen Terroristen als Geisel genommen und ermordet.

Die Freie Universität äußerte sich zu der Gewalttat zunächst nur in einem kurzen Kommentar auf X, in dem sie sich pauschal von »Hass und Hetze« distanzierte. Daraufhin veröffentlichte am Sonntag die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD) einen – bereits zweiten – offenen Brief an den Präsidenten der Universität, in dem sie Konsequenzen für Antisemiten forderte.

Reaktionen von Kai Wegner, Günter Ziegler und Josef Schuster

Auch Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner meldete sich von seiner Reise in Israel zu Wort: »Ich erwarte, dass unsere Universitätsleitungen konsequent gegen Antisemitismus vorgehen und aktiv eingreifen, wenn sich solche Entwicklungen abzeichnen.«

Am Montagmittag schließlich verurteilte der Präsident der Freien Universität, Günter Ziegler, den Angriff und versprach: »Wenn sich bestätigt, dass der Täter Student der Freien Universität Berlin ist, wird die Hochschule umgehend die möglichen juristischen Schritte im Rahmen des Hausrechts prüfen und gegebenenfalls ein Hausverbot durchsetzen.«

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, hält dies für eine »Beschwichtigungstaktik«: »Wenn der Kampf gegen Antisemitismus ernst genommen wird, müssen antisemitische Straftaten zur Exmatrikulation führen«. Nach einer kurzen Antwort der Uni, dass dies formell nicht möglich sei, forderte der Zentralrat, das Hochschulgesetz eben entsprechend zu überarbeiten. Und ergänzte: »Nie wieder ist jetzt und nicht irgendwann.«

Debatte

Baerbock zu Netanjahu-Haftbefehl: Niemand steht über dem Gesetz 

An dem Haftbefehl gegen Israels Premierminister gibt es massive Kritik. Für Außenministerin Baerbock indes ist klar, wie Deutschland im Falle einer Einreise von Netanjahu reagieren sollte

 25.11.2024

Meinung

Wie rechtfertigt ihr euer Schweigen?

Am Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen erwähnen die meisten feministischen Organisationen die Jüdinnen in Hamas-Geiselhaft mit keinem Wort. Ein Kommentar von Sharon Adler

von Sharon Adler  25.11.2024

Meinung

Der Rubikon ist längst überschritten

Eine »globale Intifida« breitet sich auch im Westen aus. Es wäre an der Zeit, dass Regierungen klare rote Linien einziehen

von Jacques Abramowicz  25.11.2024

Meinung

Slowik muss sich an Golda Meir ein Vorbild nehmen

Die Berliner Polizeipräsidentin hat Juden zur Vorsicht vor arabischstämmigen Menschen gemahnt. Das ist das falsche Signal

von Sigmount A. Königsberg  25.11.2024

Karlsruhe

Bundesanwaltschaft klagt mutmaßliche Hamas-Mitglieder an

Vorwurf der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung

 25.11.2024

Berlin

Sicherheitsvorkehrungen für israelisches Basketball-Team

In der Euroleague steht das Spiel Alba Berlin gegen Maccabi Tel Aviv an, die Polizei bereitet sich vor

 25.11.2024

USA

Trump und das »Projekt 2025«

Mitverfasser des radikalen Plans sollen in Trumps Regierung Schlüsselpositionen übernehmen

von Bill Barrow  25.11.2024

Meinung

»No-Go-Areas« für Juden: Die Geschichte wiederholt sich

Schon in den 1920er Jahren konnte der deutsche Staat nicht alle seine Bürger schützen

von Boris Itkis  25.11.2024

Meinung

Nan Goldin: Gebrüll statt Kunst

Nach dem Eklat in der Neuen Nationalgalerie sollte Direktor Klaus Biesenbach zurücktreten

von Ayala Goldmann  25.11.2024