In wenigen Wochen feiert Israel seinen 75. Geburtstag, und für viele Israelis gibt es keinen Grund zu feiern. Sie fürchten, dass die jetzige Regierung das Israel, das ihre Werte repräsentiert, zu Grabe trägt. Die geplante Justizreform würde die Gewaltenteilung aushebeln und die Justiz von der Regierung abhängig machen.
Dabei geht es eigentlich um viel mehr. Es geht um den Erhalt der grundsätzlichen Werte einer liberalen Demokratie. Einige Minister wünschen sich einen theokratischen Torastaat herbei, andere wiegeln gegen die LGBTQ-Gemeinde auf, und wieder andere wollen eine ganze arabische Stadt »auslöschen«. Manche Regierungsparteien möchten am liebsten das gesamte Westjordanland annektieren. Wie sich aber bei etwa der Hälfte der arabischen Bevölkerung zwischen Mittelmeer und Jordan ein jüdischer und demokratischer Staat umsetzen lässt, hat noch niemand beantworten können.
demografie Der Grund dafür liegt auf der Hand. Ministern wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir liegt nicht viel an einem demokratischen Staat, Hauptsache, der Staat wird jüdischer und religiöser. Betrachtet man die demografische Entwicklung, so können sie wohl zuversichtlich in die Zukunft blicken. Die ultraorthodoxe (mit durchschnittlich sieben Kindern pro Familie) und die nationalreligiöse Bevölkerung (mit vier Kindern) wachsen wesentlich schneller als die säkularen Juden in Israel mit durchschnittlich zwei Kindern pro Familie.
Das Oberste Gericht verteidigt seine Positionen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln.
Aber auch das liberale Israel stellt gerade unter Beweis, dass das Land zumindest heute noch eine lebendige Demokratie ist. Kampflos geben ihre Anhänger nicht auf. Sie mögen bei den letzten Wahlen nur 49 Prozent der Wählerinnen und Wähler mobilisiert haben, aber sie wissen einen Großteil der Eliten hinter sich, die den Staat tragen.
Das Oberste Gericht verteidigt seine Positionen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, führende Offiziere wollen die radikalen Maßnahmen der Regierung im Westjordanland nicht umsetzen, sämtliche Universitätspräsidenten fordern die Regierung zum Umdenken auf, Start-ups drohen mit der Abführung ihres Kapitals ins Ausland.
strukturen Jede Woche gehen Hunderttausende auf die Straße. Reservisten der Armee kündigen an, nicht zum Dienst anzutreten. Der Staatspräsident warnt davor, dass das Land auseinanderfällt. Ehemalige Ministerpräsidenten, Generalstabschefs, Leiter des Geheimdienstes und Zentralbankpräsidenten rufen zum Erhalt der demokratischen Strukturen auf.
Dass Israel tief gespalten ist, ist nichts Neues.
Israel steht nach 75 Jahren am Scheideweg. Wird es eine populistische Demokratie à la Ungarn und Türkei und ein zunehmend religiös ausgerichteter Staat, oder bleibt es die einzige wahre Demokratie im Nahen Osten?
Eine Demokratie lässt sich ja bekanntlich nicht nur daran messen, dass alle paar Jahre (oder wie in Israel alle paar Monate) Wahlen abgehalten werden, sondern dass auch den Minderheiten, zu denen übrigens auch die über 20 Prozent arabischen Bürger Israels gehören, gleiche Rechte zustehen und universal verbindliche Werte der Demokratie gewahrt werden. Die Ernsthaftigkeit der Lage in Israel kann nicht überschätzt werden. Dass Israel tief gespalten ist, ist nichts Neues. Dass es bedroht ist, auch nicht. Aber noch nie stand das Land so nah vor einem inneren Bruch wie heute.
misere Noch ist es nicht zu spät, um das Blatt zu wenden und aus der jetzigen Misere Lehren zu ziehen. Staatspräsident Herzog rief alle Parteien dazu auf, gemeinsam eine Justizreform auszuarbeiten. Der frühere Premierminister Yair Lapid schlug vor, gerade jetzt eine Verfassung zu erarbeiten. Die Gewerkschaft Histadrut startete eine Kampagne zur Einheit aller Arbeitenden in Israel.
Vielleicht sehen ja auch einige der heute Verantwortlichen eine Chance inmitten der heutigen Zerreißprobe. Benjamin Netanjahu könnte als ein Ministerpräsident in die Geschichte eingehen, der das Land vor der Spaltung bewahrt, wenn er sich dazu durchringt, die Interessen des ganzen Landes über seine persönlichen und die seiner radikalen Koalitionspartner zu stellen.
Zahlreiche amerikanisch-jüdische Organisationen distanzieren sich deutlich von der jetzigen Regierungspolitik in Jerusalem.
Ohne Druck von außen wird dies aber nicht geschehen. So stehen gerade die größten Freunde Israels in der Verantwortung, das Land vor seiner drohenden Spaltung zu bewahren. Die amerikanische Regierung hat bereits zu erkennen gegeben, dass sie die derzeitigen Entwicklungen mit Sorge verfolgt.
ansehen Zahlreiche amerikanisch-jüdische Organisationen distanzieren sich deutlich von der jetzigen Regierungspolitik in Jerusalem. Und als Netanjahu vor Kurzem zu einem Staatsbesuch in Italien war, hat ihn die Präsidentin der Union jüdischer Gemeinden, Noemi Di Segni, sehr deutlich darauf hingewiesen, wie gefährlich die gegenwärtige Politik auch für das Ansehen Israels in der Welt ist.
Nirgendwo ist es so schwierig, die korrekten Töne gegenüber einer riskanten israelischen Politik zu finden wie in Deutschland. Bisher haben Mitglieder der Bundesregierung in den Treffen mit ihren israelischen Kollegen die richtige Mischung aus grundsätzlicher Unterstützung für den Staat und ihrer Warnung gegenüber der Aufweichung demokratischer Strukturen zum Ausdruck gebracht. Das gilt auch für die jüdische Gemeinschaft hierzulande. Eine konstruktive Kritik ist alles andere als anti-israelisch. Sie ist vielmehr ein wichtiger Versuch von Freunden, die israelische Gesellschaft vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren.
Der Autor ist Historiker und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München.