»Was an Berlin so speziell ist? Dass hier so viele Menschen unterschiedlichen Alters Fahrrad fahren. Ich dachte, das sei nur in Holland so!« Rachel Katzenelson (79) besucht Berlin mit ihren Töchtern Yehudit (51) und Yael (43). Eine der ersten Fragen, die die drei beschäftigt: »Wer kümmert sich bei euch eigentlich um die alten Menschen? Bei uns werden sie von philippinischen Frauen versorgt. Wer macht das hier?«
Im Laufe ihres fünftägigen Aufenthaltes fragen sie sich auch immer wieder, was denn mit der berühmten deutschen Ordnung passiert ist: Züge, die zu spät kommen? Kann doch nicht sein! Andererseits dann diese fantastische Architektur, das viele Grün in den Straßen und Höfen, das sie schon beim Anflug auf Berlin fasziniert hat. Und ruhig sei es hier, und das sei schön. Denn in Israel ist es nie still.
zionistischer adel Rachel, Yehudit und Yael sind nach Berlin gekommen, in eine Stadt, die auch in der Geschichte der Familie Katzenelson Spuren hinterlassen hat. In Israel gehört die Familie Katzenelson zum »zionistischen Adel«. Yehudits und Yaels Großgroßonkel war Berl Katzenelson, eine Galionsfigur der zionistischen Arbeiterbewegung, Gründer der Histadrut und ein führender linker Intellektueller. Nach ihm werden bis heute israelische Straßen benannt.
Der Onkel ihres verstorbenen Vaters, des Pädagogen Benny Katzenelson, war der polnische Theaterautor und Schriftsteller Yitzhak Katzenelson. Im französischen Sammellager Vichy schrieb er 1944, einige Monate vor seiner Ermordung in Auschwitz, das Versepos Dos lid funm ojsgehargetn jidischen folk. In 15 Gesängen und 225 vierzeiligen Strophen beklagt es auf Jiddisch die Vernichtung des jüdischen Volkes in Europa. »Weh mir, da ist nicht keiner mehr. Und war mal ein Volk. Vorbei. Und ausgelöscht ein ganzes Volk. Uns gibt es nun nicht mehr.«
Mit diesem Erbe sind die vier Kinder von Rachel Katzenelson aufgewachsen. Rachel – man nennt sie Rochele – ist eine Tochter des ersten Kibbuz von Israel, Deganya, 1910 am südlichen Ufer des Kinneret gegründet. Ihre Eltern waren Chaluzim, Pioniere. Der Vater, Chaim Berkovitz, kam 1915, 28-jährig, von Lachowitz nahe Kiew nach Eretz Israel. Die Mutter, Cäcilia Herrmann, die aus Königsberg stammte, machte 1923 Alija. Rochele zog nach der Hochzeit mit Benny Katzenelson in den Kibbuz Shefajim. Er wurde 1927 gegründet und liegt 15 km nördlich von Tel Aviv. Dort wuchsen ihre vier Kinder auf: Yitzhak, Yehudit, Chaim und Yael. Außer Yehudit leben alle bis heute in Shefajim, das lange Zeit als einer der wohlhabendsten Kibbuzim in Israel galt und 2010 teilprivatisiert wurde.
wolf biermann Rochele kommt nicht zum ersten Mal nach Berlin: 1995 wurde Wolf Biermanns Übertragung des lid funm ojsgehargetn jidischen folk im Bundestag präsentiert. Benny und Rochele waren damals Gäste der Bundesregierung. Biermann und seine Familie hatten zuvor Monate in Shefajim verbracht. Gemeinsam mit Benny, der Jiddisch beherrschte, arbeitete sich Biermann durch den verzweifelten literarischen Aufschrei Yitzhak Katzenelsons.
»Wir haben uns damals sehr geehrt gefühlt, dass das deutsche Parlament unseres Onkels gedachte«, sagt Rochele. »Benny wollte jahrzehntelang weder mit Deutschland noch mit Deutschen irgendetwas zu tun haben. Erst in den frühen 60er-Jahren sprach er zum ersten Mal mit einem deutschen Touristen. Sein Name war Huber. Später hat Benny nur mit Deutschen geredet, die Israel in irgendeiner Art halfen. Er war dann in der israelischen Lehrergewerkschaft für die internationalen Kontakte zuständig. In diesen Jahren ist er viel gereist. Als unsere Kinder größer waren, bin ich mit ihm gefahren. Und weil er sehr interessiert an Menschen und Gesprächen war, haben wir auch viele Deutsche kennengelernt. Einige wurden unsere Freunde.«
besuchsprogramm Die drei Katzenelson-Frauen haben sich ein ambitioniertes Programm vorgenommen: vom Holocaust-Mahnmal über den Fernsehturm am Alexanderplatz, das Schloss Sanssouci in Potsdam, die Berlinische Galerie, das Museum für Kunst der Gegenwart am Hamburger Bahnhof bis hin zum Seeufer der Krummen Lanke in Zehlendorf. Ein Orgelkonzert in der St.-Marien-Kirche am Alexanderplatz begeistert sie so sehr, dass sie auch noch zum anschließenden ökumenischen Samstagabendgottesdienst bleiben. Dass dort alle paar Minuten die Worte Israel und Jerusalem fallen, wundert die drei Atheistinnen. Sie selbst sind ohne Religion aufgewachsen.
Berlin gefällt den Frauen. Aber unbefangen durch die Stadt gehen können sie nicht. »Berlin ist toll, aber ich würde hier nicht leben wollen«, sagt Yehudit, die an einer Schule in Pardes Chana, einer Kleinstadt im Bezirk Haifa, unterrichtet. »Die Nazi-Vergangenheit sitzt einem als Israelin, als Jüdin, immer im Genick.« Und Yehudit zitiert ein jiddisches Sprichwort: »Man kommt für einen Augenblick und sieht den ganzen Zores.« Yehudit und Yael sind sich einig: Wenn Israelis in Berlin leben, dann haben sie zu schnell die Geschichte ihres Volkes vergessen. »Ich würde eher in Ägypten wohnen wollen als in Deutschland!«, macht Yehudit klar.
Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes 2005 war sie schon einmal mit ihrer Mutter in Berlin gewesen. Auch damals auf Einladung der Bundesregierung. Auch damals hat es ihr gefallen, aber »ich musste die ganze Zeit an die Schoa denken. Wie war es möglich, dass Hitler die deutsche Nation so zerstören konnte?«, fragt sie. »Schau, der Wannsee ist schön, wir sind dran vorbei gefahren. Aber ich könnte dort niemals hinfahren. Dort wurde die Endlösung, also die Vernichtung meines Volkes beschlossen. Auch das Bundestagsgebäude berührt mich unangenehm. Vor allem der große Reichsadler, der dort hängt.«
kriegserinnerungen Auch für Benny Katzenelson, erinnert sich Rochele, blieb Berlin immer die Stadt, in der die sechs Jahre währende Gefangenschaft seines Vaters Avram begonnen hatte. Avram, der schon 1924 von Lodz nach Eretz Israel emigriert war, reiste im September 1939 als Bürger des britischen Mandatsgebietes Palästina nach Warschau, um nach seiner dort verbliebenen Familie zu sehen. Dort war er, als der Krieg begann. Gemeinsam mit einigen anderen Ausländern wurde er von der Gestapo von Warschau nach Königsberg gebracht. Die seltsame Reisetruppe bestieg ein Schiff, das sie nach Swinemünde brachte. Von dort ging es weiter nach Berlin. Es folgten einige unbeschwerte Tage in dem 1877 erbauten und 1944 zerstörten luxuriösen Central-Hotel neben dem S-Bahnhof Friedrichstraße mit Ausflügen und üppigem Essen.
Am 5. Oktober 1939 war der Spaß vorbei: Avram und drei Mitreisende aus Palästina wurden frühmorgens von der Gestapo verhaftet und mit der Straßenbahn in das Gefängnis am Alexanderplatz gebracht. Später erinnerte sich Avram: »Obwohl wir Gefangene waren, mussten wir unsere Fahrt selbst bezahlen.« Neun Tage verbrachten sie dort unter schwierigsten Verhältnissen, in einer Zelle mit fünf weiteren Gefangenen. Immerhin: Das KZ blieb ihnen erspart. Am 13. Oktober wurden die vier Männer abgeholt und als britische Kriegsgefangene in ein Lager in Süddeutschland gebracht. Erst 1945 kam Avram wieder zurück zu seiner Familie nach Shefajim.
deportation Auch Rocheles Familie hat Erinnerungen an Berlin: Ihre Mutter Zilly kam 1918 nach Berlin, um hier eine Kindergärtnerinnen-Ausbildung zu machen. Von hier aus wanderte sie 1923 über Triest nach Palästina aus. Ihre Mutter, Rocheles Großmutter Blanka, musste 1940 ihr Stoffgeschäft und ihre Wohnung in Königsberg verlassen und nach Berlin ziehen. Zwei Jahre wohnte sie in der Duisburger Straße 15 nahe dem Kurfürstendamm. Mit dem Transport I-34 wurde sie am 13. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und am 26. September 1942 mit dem Transport BR-126 nach Treblinka verschleppt. Zilly hat vom Tod der Mutter erst nach Ende des Krieges erfahren.
Die Deutschen müssten eine Seelenrechnung, eine Cheschbon Nefesch, aufstellen, für die nächsten 200 Jahre eine Art moralische Hausaufgabe erledigen, meint Rochele. Und was kann da am Ende herauskommen? Das wüssten sie nicht, sie hätten keine Lösung, sagen die drei Frauen. Eher seien Deutschland und Israel wie zwei Flüsse, die nebeneinander her fließen, mit Fischen, die von einem Fluss zum anderen springen und so den Austausch ermöglichen. »Unsere Aufgabe ist es, an die Menschen zu erinnern, die umkamen, deren Geschichten zu erzählen.«