»Wer lebt noch, der meine Erfahrungen teilt?« fragt Giselle Cycowicz. Die 92-jährige gebürtige Ukrainerin ist Psychologin. Trotz ihres Alters arbeitet sie weiterhin für die israelische Selbsthilfeorganisation AMCHA, die Überlebende der Schoa psychosozial betreut. Giselle Cycowicz ist selbst eine Überlebende. Im Mai 1944 wurde sie mit ihrer Familie nach Auschwitz deportiert, der Vater vergast. Giselle, ihre Mutter und ihre Schwester überlebten. Nach dem Krieg gingen die drei Frauen in die USA.
Im Alter von 42 Jahren nahm Giselle ein Psychologiestudium auf und promovierte später in Persönlichkeits- und Sozialpsychologie. Nach dem Tod ihres Mannes siedelte sie 1992 nach Israel über. Seit 23 Jahren betreut sie dort nun andere Holocaust-Überlebende – sowohl in Individual- als auch in Gruppentherapien. Sie ist die älteste AMCHA-Mitarbeiterin. Trotzdem befällt sie noch heute häufig ein Gefühl von Einsamkeit, von dem auch andere Überlebende der Schoa berichten. Das hänge damit zusammen, dass man sich nicht verstanden fühle, sagt Giselle Cycowicz.
Unterstützungsleistungen für Überlebende der Nazi-Gräuel bleiben auch 75 Jahre nach der Befreiung eine Notwendigkeit. Mit Hilfe von Psychotherapien, sozialen Aktivitäten und Hausbesuchen versuchen Organisationen wie AMCHA den oft schwer traumatisierten Menschen zu helfen, im Alter ein würdevolles Leben zu führen. Die Zahl der von AMCHA jedes Jahr angebotenen Therapiestunden hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt, auf nunmehr 245.000.
WÜRDE In Israel starben 2019 14.800 Überlebende der Schoa. Ungefähr 192.000 zumeist hochbetagte Überlebende gibt es dort noch. Rund zwei Drittel von ihnen erhalten finanzielle Unterstützung vom Staat. Der Höchstsatz beträgt 6000 Schekel (rund 1600 Euro) im Monat, ihn bekommen aber nur die Wenigsten. Zudem sind Überlebende von Zuzahlungen für Medikamente und Arztbesuche befreit. Dennoch: Es wird vermutet, dass rund ein Viertel der israelischen Betroffenen in Armut lebt. Sie sind auf die Unterstützung karitativer Organisationen angewiesen.
Organisationen helfen mit Psychotherapien, sozialen Aktivitäten und Hausbesuchen.
Die Claims Conference, die seit 1951 Entschädigungsansprüche jüdischer NS-Opfer vertritt, schätzt, dass weltweit noch knapp 400.000 Holocaust-Überlebende am Leben sind. Besonders in Osteuropa sind viele von Armut betroffen, leiden unter einem schlecht funktionierenden Gesundheitssystem und sind zum Teil ohne soziale Sicherung. »Zehntausende Überlebende sind auf Betreuungsmaßnahmen angewiesen.
Angesichts fehlender Sozialsysteme ist die häusliche Betreuung durch die von uns finanzierten Sozialagenturen vor Ort oft lebenserhaltend, vor allem in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion«, erklärt der Repräsentant der Claims Conference in Deutschland, Rüdiger Mahlo.
Dort leben rund 12 Prozent aller Schoa-Überlebenden. Man werde alles daransetzen, dass sie einen Lebensabend in Würde verbringen können, sagte Mahlo der Jüdischen Allgemeinen.
Medizinische Studien haben festgestellt, dass Holocaust-Überlebende generell anfälliger sind für Alterskrankheiten wie Krebs, Osteoporose und Alzheimer. Viele leiden auch unter schweren Traumata.
SÜDOSTEUROPA Die Claims Conference finanziert über Partnerorganisationen vor Ort soziale Dienstleistungen für Opfer der Schoa, darunter die häusliche Betreuung, die Versorgung mit Essen und Medikamenten und auch den Transport zu Ärzten. Auch soziale Angebote und Treffen mit Menschen, die das gleiche Schicksal erfahren, sollen helfen, das Leid der Überlebenden zu lindern, und es ihnen ermöglichen, ihre Einsamkeit zu überwinden und so den Alltag im Alter besser zu meistern.
Bei den jährlich stattfindenden Verhandlungen mit der Bundesregierung hat die Claims Conference im Juli 2019 eine Erhöhung der Zuwendung für häusliche Betreuung um 44 Millionen Euro erhalten. 2020 wird sie weltweit 524 Millionen Euro für die Betreuung der 132.000 jüdischen Nazi-Opfer bereitstellen. »Schwerstverfolgte« des NS-Regimes erhalten dabei eine Monatsrente von 513 Euro.
Fast alle Überlebenden, die nach 1990 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen, leben heute von Grundsicherung.
Die Summe ist unabhängig vom Heimatland oder Wohnort der Begünstigten. Das kann für Überlebende in südosteuropäischen Staaten wie Ungarn oder Rumänien ein Betrag sein, der weit über der Durchschnittsrente der jeweiligen Länder liegt und den Empfängern ein menschenwürdiges Auskommen ermöglicht.
Auch in Griechenland, dessen Menschen in den vergangenen Jahren von einer schweren Wirtschaftskrise gebeutelt wurden, sind die Holocaust-Überlebenden dankbar für die Unterstützung. So erreichten die Claims Conference vielfach Briefe griechischer Überlebender, die dank der Zahlungen ihren Enkeln beim Schulgeld unter die Arme greifen konnten.
RENTENANSPRÜCHE In Deutschland bietet die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) in 20 Städten Hilfen für Holocaust-Überlebende und deren Angehörige an, darunter auch »Treffpunkte« sowie Seminare zur Qualifizierung in traumasensibler psychosozialer Arbeit. Die Zahl der hierzulande lebenden Opfer schätzt Noemi Staszewski, Projektleiterin der Treffpunkte für Schoa-Überlebende bei der ZWST in Frankfurt, auf ungefähr 30.000, auch wenn es keine belastbaren Zahlen gebe.
Fast alle Überlebenden, die nach 1990 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen seien, fielen heute in die Grundsicherung, da sie kaum Rentenansprüche erwerben konnten. Auch einigen »Alteingessenen« gehe es kaum besser, sagt Staszewski. »Wir haben hier in Frankfurt viele, die mit gerade mal 1000 Euro im Monat auskommen müssen«, sagt sie.
Leider seien alle politischen Vorstöße, die Altersgrundsicherung für die Gruppe der Schoa-Überlebenden deutlich aufzustocken, bislang gescheitert.