Man stelle sich einmal vor, die Fußball-Europameisterschaft 2024 findet in den neu gebauten Stadien von Ramat Gan, Haifa, Jerusalem, Gaza und Ramallah im mittlerweile befriedeten Doppelstaat Israel/Palästina statt. Auch wenn die gastgebenden Mannschaften nicht ganz der Spielstärke von Spanien und den Niederlanden entsprechen, so bestreiten sie doch vor einem leicht gelangweilten Millionenfernsehpublikum das symbolische Eröffnungsspiel.
Michel Platini, der Präsident der UEFA, betont in seiner Eröffnungsrede, dass für die Vergabe der Spiele rein sportliche Kriterien ausschlaggebend gewesen seien, während der im mittlerweile entvölkerten Nachbarstaat Syrien unangefochten herrschende Präsident Assad seine russischen Verbündeten dafür gewinnt, die Spiele im »zionistischen Nachbargebilde« zu boykottieren. Auch Alexander Lukaschenko, der mit 99,7 Prozent der Stimmen wiedergewählte Präsident Weißrusslands, entschließt sich, seine Kicker nicht in das von Menschenrechtsverletzungen geplagte Israel zu entsenden.
Gastgeber So weit wird es wohl erst kommen, wenn der Moschiach persönlich im blau-weißen Trikot aufs Feld läuft. Die heutige Debatte dagegen dreht sich um zwei längst befriedete Staaten, die Ukraine und Polen, die jetzt Gastgeber des größten europäischen Fußballereignisses sein dürfen. Da aber die Ukraine nicht jedermanns Vorstellung eines demokratischen Landes entspricht, entzündet sich wieder einmal ein politischer Streit um einen Sportwettkampf.
Wenn Michel Platini meint, Sport sei unpolitisch, und er damit den Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft, Philipp Lahm, zurückweist, der die Menschenrechtsvergehen in der Ukraine beim Namen nennt, so müsste er wohl einmal etwas genauer in die Annalen der Sportgeschichte sehen. Er wird entdecken: Sport lässt sich nur schwer von Politik trennen. In seiner Geschichte eines Deutschen beschrieb Sebastian Haffner schon für die Weimarer Republik den »Sportfimmel, der in jenen Jahren die deutsche Jugend ergriff«. Er gehörte für ihn zu einem der »Vorboten des kommenden Unheils (...), der durchaus missverstanden und gar noch öffentlich gefördert und belobigt wurde«.
Auch in der jüdischen Geschichte erfüllte der Sport oftmals eine politische Funktion. Zionisten hatten dies von Anfang an entdeckt. Als Max Nordau um die Jahrhundertwende zur Begründung eines »Muskeljudentums« aufrief, erblickte er in der sportlichen Betätigung eine Möglichkeit, dem Antisemitismus und insbesondere dem Vorurteil, die Juden seien körperlich untauglich, zu begegnen. Keinem Verein gelang dies besser als der Wiener Hakoah, die 1925 nicht nur den Fußballtitel im Lande errang, sondern gleichzeitig auch noch die österreichischen Mannschaftsmeisterschaften im Ringen und Schwimmen wie auch die Hockeymeisterschaft gewann.
Mannschaft Der Schriftsteller Friedrich Torberg, der selbst mit Hagibor Prag tschechoslowakischer Wasserballmeister wurde, wusste, dass Juden Nobelpreisträger werden konnten – aber dass Hakoah Wien die damals legendäre Mannschaft von West Ham United in London mit 5:0 besiegte, damit konnte man sich wirklich schmücken! Wie Torberg eindringlich beschrieb, konnten diese Leistungen auch unter Antisemiten gelegentlich Respekt erheischen, und die damals üblichen »Saujud«-Rufe mancher österreichischer Fans mutierten gelegentlich zum Schlachtruf: »Hoppauf, Herr Jud!«
Politisch war der Fußball nicht nur in Wien. Neben den zionistischen Vereinen gab es gutbürgerliche, die als »Judenclubs« verschrien waren, wie MTK Budapest, Ajax Amsterdam und Bayern München, der 1932 unter seinem jüdischen Präsidenten Kurt Landauer seine erste deutsche Meisterschaft errangen.
Dass Sport und Politik nicht zu trennen sind, das zeigt nichts deutlicher als die Geschichte der Olympischen Spiele. Berlin 1936 wurde zum Propagandafest der Nazis, München 1972 führte zum Massaker an israelischen Sportlern, Moskau 1980 wurde von den Amerikanern boykottiert, Los An- geles 1984 von den Russen. Und wenn es keinen Boykott gab, dann zumindest Aufrufe hierzu: zuletzt war dies in China wegen Menschenrechtsverletzungen der Fall. Wenn Katar die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 ausrichten darf, wird man nicht nur wegen der Frauenrechte kritische Fragen stellen.
Nun ist also erst einmal die Ukraine dran. Auch hier lassen sich Argumente finden für Boykott, Protest oder Stillschweigen – je nach politischer Überzeugung. Vielleicht ist es endlich eine Lehre, sich genau zu überlegen, an welche Staaten man in Zukunft große Sportereignisse vergibt. Für die Europameisterschaft 2020 stehen bereits die Türkei, Aserbaidschan und Georgien an. Neben Stadiontauglichkeit und Länderproporz müssten aber eigentlich Bedingungen wie Achtung der Menschenrechte und Demokratieverständnis gegeben sein. Denn eines sollte mittlerweile klar sein: Sport mag unpolitisch sein, große Sportereignisse sind es gewiss nicht.
Der Autor ist Historiker an der Ludwig-Maximilians-Universität München.