»Wir können diesen Krieg gewinnen, weil wir ihn gewinnen müssen«, wiederholt der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, zunehmend verzweifelt – wohl auch, weil er spürt, dass ihn hier bei aller Sympathie kaum jemand versteht.
Israelis dagegen wissen genau, was er meint. Sie sind damit aufgewachsen. Vom ersten Moment an musste das Land um sein Überleben kämpfen. Kein Krieg darf verloren gehen, und deshalb wurde auch noch kein Krieg verloren.
tacheles Umso enttäuschender für Wolodymyr Selenskyj, den jüdischen Präsidenten der Ukraine, dass ausgerechnet Israel nicht von Anfang an Tacheles geredet hat, sondern erst von den USA gedrängt werden musste, sich öffentlich gegen Putins Angriffskrieg zu positionieren.
Auch in Israel selbst gibt es heftige Kritik am zögerlichen Vorgehen der Regierung, die der Ukraine weder Waffen liefert noch bei der harten internationalen Sanktionspolitik gegenüber Russland mitmacht. Wie kann das sein?
In der Empörung vieler Deutscher über Israel klingt ein schwer erträglicher selbstgerechter Unterton.
In der Empörung vieler Deutscher über Israel klingt ein schwer erträglicher selbstgerechter Unterton. Dabei gibt es keinen Grund, sich als Schulmeister aufzuspielen. Wir liefern jetzt Waffen – zu wenig, zu spät. Wir haben die Gaspipeline Nord Stream 2 auf Eis gelegt – nach heftigem internationalen Druck. Wir haben drastische Wirtschaftssanktionen beschlossen – zugleich aber dafür gesorgt, dass Deutschland weiterhin Öl, Gas und Kohle in Russland einkaufen und bezahlen kann.
Einen vollständigen Einfuhrstopp, wie ihn die Ukraine und viele Verbündete fordern, hat Wirtschaftsminister Robert Habeck klar ausgeschlossen. Aus Sorge um den »sozialen Frieden« bei uns finanzieren wir den Krieg dort.
sanktionen Doch auch die jetzigen Sanktionen, die 100 Milliarden für die Bundeswehr, der Umbau der Energiewirtschaft und die Integration der Ukraine-Flüchtlinge werden uns heftige Einschränkungen abverlangen. Die steigenden Benzinpreise zeigen ernüchternde Wirkung bei uns, und die Erinnerung daran, was auf die »Willkommenskultur« 2015 folgte, weckt nicht nur bei Pessimisten Zweifel daran, dass Deutschland den demokratischen Stresstest gut bestehen wird.
Dabei geht es hierzulande »nur« ums Geld, nicht ums Überleben. Für Israel sieht die Rechnung anders aus. »Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass es keinen wirklichen Schutz gibt. Um wirklich schützen zu können, muss man bereit sein, notfalls auch mit Blut zu bezahlen. Das tut keiner. Keiner zahlt für uns mit seinem Blut«, sagte der frühere Mossad-Chef Zvi Samir schon vor zehn Jahren im Interview.
Kein Volk kann das jetzige Leid des ukrainischen wohl besser verstehen als das jüdische.
Staatsräson hin, historische Verpflichtung her. Der Krieg jetzt zeigt einmal mehr: Im Ernstfall schaut die Welt zu und bedauert. Verantwortungsvolle Politik wird keinen Dritten Weltkrieg riskieren, schon gar nicht mit der Atommacht Russland. Die NATO ist erleichtert, noch nicht aktiv militärisch eingreifen zu müssen, und verweigert vorsorglich die Einrichtung von Flugverbotszonen.
überlegungen »Es zerreißt einem das Herz«, sagt die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und begründet, warum wir unerträgliche Bilder ertragen müssen. All diese Überlegungen gelten für Israel in potenzierter Weise. Das Land ist in einer humanitären Zerreißprobe.
Einerseits kann wohl kein Volk das jetzige Leid des ukrainischen besser verstehen als das jüdische. Andererseits ist kaum ein Land für seine Sicherheit so abhängig vom Wohlwollen der beiden Großmächte USA und Russland. Die amerikanische Unterstützung ist die Basis für Israels Existenz, die russische Duldung der israelischen Luftschläge gegen die Hisbollah und den Iran in Syrien ist die Basis für die Verteidigung im Norden.
Mehr noch: Wie schnell Israels Erzfeind Iran Atomwaffen haben wird, hängt wesentlich von Russland ab. Was das bedeuten würde, ist Israels Albtraum schlechthin. Wer die Ukraine militärisch alleinlässt aus Angst vor Russlands atomarer Drohung, wird auch den jüdischen Staat einer Atommacht Iran ausliefern. Wie eng der Schulterschluss zwischen Israels Feinden und Putin schon jetzt ist, zeigte die UN-Abstimmung über die Verurteilung Russlands.
Zuflucht im Notfall, das ist Israels wichtigste Aufgabe.
Die Enthaltung des Iran, die Ablehnung durch Syrien sind beunruhigende Vorboten. Dazu passend gibt es erste palästinensische Pro-Putin-Demonstrationen. Wer in dieser Situation von Israel einen konfrontativen Kurs gegenüber Putin fordert, ist bestenfalls anmaßend naiv. Selbst auf den ersten Blick billige Sanktionsmaßnahmen fordern für das Land einen sehr hohen Preis. Würde Israel etwa alle Flüge nach Russland aussetzen, wäre das eine Katastrophe. EL AL sichert die wichtige Fluchtroute für ukrainische und russische Juden.
flüchtlinge Zuflucht im Notfall, das ist Israels wichtigste Aufgabe. Auf die Aufnahme von bis zu 300.000 meist jüdischen Flüchtlingen bereitet der Staat sich jetzt vor. Parallel dazu leistet Israel massive humanitäre Hilfe vor Ort, einschließlich des Aufbaus eines Feldlazaretts in der Ukraine.
Und Premierminister Bennett hat sich auf eine heikle Mission begeben. Gerade weil das Land zwischen allen Fronten steht, hat es vielleicht eine Chance als diplomatischer Unterhändler. Maulheldentum kann sich Israel nicht leisten. Doch leise Töne finden zuweilen mehr Gehör als lautes Getöse. Die Chance ist gering, aber Purim erinnert daran, dass leise Worte Leben retten können.
Die Autorin ist Journalistin und Filmemacherin.