Der Richter Jan-Robert von Renesse war ein Glücksfall. Schoa-Überlebende, die ihre Arbeit im Ghetto für ihre Rente anerkannt bekommen wollten, konnten froh sein, wenn sie es mit dem Richter am Landessozialgericht in Essen zu tun bekamen. Der war nämlich ab 2006 für die Klagen der abgewiesenen Ghettoarbeiter zuständig.
Und er entschied nicht schnell nach Aktenlage, sondern gab sich Mühe. Er recherchierte, fuhr nach Israel, redete mit den Opfern der Nazis. Das hatte noch niemand getan. »Für mich«, sagt von Renesse, »war das eine Selbstverständlichkeit. Wenn ein Rentner in Deutschland gegen seine Versicherung klagt, spreche ich auch mit ihm – warum sollte ich das in diesen Fällen nicht tun, nur weil der Betroffene in Israel lebt?«
ausbeutung Es gab fast 1.000 Ghettos in Polen und der Sowjetunion, sie waren Sammellager für die osteuropäischen Juden, die hier lebten, arbeiteten und starben und oft bis zum letzten Augenblick die Hoffnung nicht aufgaben, dem Tod im Konzentrationslager zu entkommen: Die Ghettos hatten ihren festen Platz im NS-Terrorsystem. In fast allen Ghettos gab es eigene Betriebe oder wurden die Insassen an Unternehmen verliehen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen mussten von ihrem geringen Lohn auch noch Beiträge für die Rentenkasse abführen.
Doch eine Auszahlung der Rente bedeutete das auch nach Ende der Nazizeit nicht. Die Bundesrepublik wehrte sich Jahrzehnte lang dagegen, die Rentenansprüche der ehemaligen Ghettoarbeiter anzuerkennen. Erst 2002, als viele derjenigen, die Ansprüche hätten gelten machen können, bereits gestorben waren, änderte der Bundestag auf Druck des Zentralrats der Juden in Deutschland und der Claims Conference seine Haltung: Er verabschiedete ein Gesetz, das die Rentenansprüche der ehemaligen Ghettoarbeiter anerkannte.
zeitnot Politiker riefen dazu auf, dass die Rentenansprüche schnell geprüft würden, denn die Zeit drängte: Schon damals war klar, dass es angesichts der zumeist hochbetagten Betroffenen schnell gehen musste, wenn ihnen noch die Rentenzahlungen zugutekommen sollten. Doch die Deutsche Rentenversicherung Rheinland (DRR) kümmerten die Wünsche der Politiker wenig. Die Antragsverfahren waren kompliziert und fast alle Anträge wurden von der DRR abgelehnt – fast 97 Prozent.
Von Renesse wollte sich ein eigenes Bild machen von den Antragstellern, die den Klageweg beschritten. »Oft war es sehr schwer, weil viele alt waren und sich schlecht erinnerten, aber viele konnten beweisen, dass sie Ghettoarbeiter waren«, sagt er. Auch in Israel lebten die meisten am Rand des Existenzminimums. »Das sind Menschen, denen die Jugend gestohlen wurde. Die meisten haben keine Ausbildung erhalten und hatten auch in Israel fast immer nur Hilfsarbeiterjobs. Ihre Rente ist klein, sie brauchen das Geld aus Deutschland.«
reisen Doch von Renesse verließ sich nicht nur auf die Aussagen der Antragsteller. Er beauftragte Historiker, wühlte sich durch Archive. So trug seine Arbeit nicht nur dazu bei, dass vielen Betroffenen Gerechtigkeit widerfuhr und sie keine entwürdigende Prozedur durchlaufen mussten, sondern auch, die Verbrechen und das Grauen in den Ghettos aufzuklären. Ungefähr 60 Prozent der von ihm geprüften Fälle führten zu einer Anerkennung der Beschäftigungszeiten auf die Rente.
Damit hatte sich von Renesse eigentlich seinen Platz in der deutschen Rechtsgeschichte redlich verdient. Er hat mit seinen Urteilen und seiner Verfahrenspraxis Hunderten von Menschen geholfen – und sichganz nebenbei um das Ansehen Deutschlands verdient gemacht. Wäre alles normal verlaufen, seine Arbeit wäre die Grundlage für eine Karriere in der Justiz oder der Politik gewesen.
Doch nichts lief in den Jahren nach den spektakulären Prozessen von Renesses noch normal: Der Richter wurde in einen anderen Senat des Landessozialgerichts versetzt, Beförderungsanträge, die Teilnahme an Dienstreisen und Weiterbildungsmaßnahmen wurden abgelehnt. Nach Ansicht von Renesses war sein Arbeitsalltag von Zumutungen und Mobbing geprägt: »Man schränkte meine richterliche Unabhängigkeit ein und griff in meine Persönlichkeitsrechte ein. Ich wurde an meiner Arbeit gehindert und stand unter Druck.«
Dabei stand das Landessozialgericht offiziell hinter ihm und lobte von Renesse ausdrücklich. In einer Pressemitteilung vom Januar 2011 beispielsweise wird ihm lobend bescheinigt, dass er »... als Erster den Weg beschritten hat, Überlebende in Israel persönlich anzuhören. Damit hat Herr Dr. von Renesse den hochbetagten Holocaustüberlebenden die Möglichkeit gegeben, zu Hause in ihrer eigenen Sprache vor Gericht auszusagen. Dieser Ermittlungsweg wurde jederzeit in vollem Umfang von den übrigen Senatsmitgliedern und der Gerichtsverwaltung des Landessozialgerichts unterstützt.«
mobbing Unterstützung ist allerdings genau das, was Jan-Robert von Renesse in den vergangenen Jahren vermisst hat: »Man hat meine Arbeit behindert, wo man konnte. Man will mich offensichtlich weghaben.« Von Renesse schaltete die Politik ein, wandte sich an den nordrhein-westfälischen Landtag und das Justizministerium, stellte Strafanzeige. Bislang ohne jeden Erfolg.
Auf Anfrage der Jüdischen Allgemeinen teilt das Justizministerium NRW mit: »Herr Dr. von Renesse hat sich in Hunderten von E-Mails an die Justizverwaltungen am Landessozialgericht in Essen und an das Justizministerium in Düsseldorf gewandt. Allein im Justizministerium hat er veranlasst, dass Dutzende Verwaltungsvorgänge angelegt wurden, in denen seinen Vorwürfen nachgegangen wurde.« Weiter heißt es, »seine Vorwürfe sind geprüft worden und haben sich im Kern nicht als berechtigt erwiesen«.
Für Martin Kühl, Sprecher des Sozialgerichtes, steht fest: »Von Renesse instrumentalisiert die Ghettoarbeiter für seine persönlichen Belange.« Kühl verweist auf einen Brief von Renesses an Bundestagspräsident Norbert Lammert. Auf knapp zwei Seiten bittet er Lammert, sich dafür einzusetzen, dass es ehemaligen Ghettoarbeitern künftig leichter gemacht wird, ihre Forderungen durchzusetzen – um im Anhang auf einem weiteren Dutzend Seiten auf seinen eigenen Fall, aber vor allem auf die Verfahrenspraxis in NRW hinzuweisen.
reinwaschen Von Renesse weist die Vorwürfe Kühls zurück. »Ich habe mich bereits 2007/2008 für eine gesetzliche Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto eingesetzt. Damals war das Landessozialgericht auch noch voll des Lobes. Ich bin also nur meiner Linie treu geblieben.« Das Landessozialgericht aber, sagt von Renesse, wolle sich jetzt selbst »reinwaschen«. Er beklagt, dass nicht auf seine Sachargumente eingegangen, sondern ihm nur Karrieredenken vorgeworfen würde – »wider besseres Wissen, weil dem Landessozialgericht bekannt ist, dass ich mich auf keine Beförderungsstelle in der Justiz mehr beworben habe«.
Von 2006 bis zum Frühjahr 2010 war Jan-Robert von Renesse für die Berufungsverfahren der sogenannten Ghettoarbeiter zuständig. Seit über zwei Jahren ist der mit seinem Namen verbundene Versuch, Ghettoarbeitern ein Stück Würde in Form einer Rente zurückzugeben, unterbrochen.