Auf den ersten Blick sahen sie aus wie ein Schwarm kleiner weißer Vögel. Doch beim näheren Hinsehen wurde klar, dass es sich um Tausende von Flugblättern handelte. Abertausende. Abgeworfen am Freitag von der israelischen Armee (IDF) über dem Gazastreifen, um der zivilen palästinensischen Bevölkerung mitzuteilen: »Flüchtet sofort!« Der Aufruf kam nach den blutigen Massakern mit mehr als 1300 Toten, welche die Terrororganisation Hamas vor einer Woche in israelischen Gemeinden anrichtete.
Die IDF forderte damit mehr als eine Million Menschen auf, ihre Häuser im nördlichen Teil der Enklave innerhalb von 24 Stunden zu verlassen und Richtung Süden zu fliehen. Während massive Vergeltungsangriffe aus der Luft bereits seit Tagen geflogen werden, scheint eine israelische Bodenoffensive kurz bevorzustehen, um »die Hamas-Terrorgruppe zu vernichten«, wie das israelische Militär ankündigte.
Hamas rief Einwohner auf, in ihren Häusern zu bleiben
Die Hamas, die den Gazastreifen regiert, rief die Einwohner auf, die Flugblätter zu ignorieren und in ihren Häusern zu bleiben. Doch viele Familien machen sich mit dem, was sie tragen können, auf den bitteren Weg. Die Vereinten Nationen bezeichneten eine Evakuierung in dieser kurzen Zeit als »unmöglich«. Sie würde eine Tragödie in eine Katastrophe verwandeln. Doch die Frist der »24 Stunden« hat die IDF längst verstreichen lassen.
Dennoch steht Ägypten unter wachsendem Handlungsdruck. Das Land ist der einzige Nachbar, der an Gaza angrenzt. Nach den brutalen Angriffen der Hamas hatte Israel seine beiden Grenzübergänge zur Enklave abgeriegelt und beendete zunächst jegliche Versorgung mit Strom, Wasser und Treibstoff. Die Grenze Rafah zwischen Gaza und Ägypten ist somit der einzige Weg, um Menschen aus dem Streifen herauszuholen und Vorräte hinzubringen. Das Wasser in Südgaza sei nach Angaben des Militärs mittlerweile wieder angestellt.
Amerikanische Beamte drängen darauf, dass die Ägypter durch Rafah einen sicheren Korridor für Zivilisten einrichten. Mittlerweile wurde bestätigt, dass Ausländern mit Wohnsitz in Gaza die Ausreise über Rafah ermöglicht wird.
Hunderttausende palästinensische Flüchtlinge
Doch vor weiteren Verpflichtungen hat Ägypten Angst. Vor allem ist man in Kairo besorgt, dass Hunderttausende palästinensische Flüchtlinge in das Land am Nil strömen. In dem lediglich 365 Quadratkilometer großen Gazastreifen leben rund 2,3 Millionen Menschen, viele von ihnen in großer Armut. Am vergangenen Donnerstag beteuerte der ägyptische Präsident Abdel Fattah el-Sisi, dass Gerüchte, Ägypten wolle seinen palästinensischen Nachbarn nicht helfen, unwahr seien. »Wir stellen sicher, dass medizinische und humanitäre Hilfe in dieser schwierigen Zeit den Streifen erreicht.«
Kairo will verhindern, dass Jordanien die Krise nutzen und zu Ägyptens Problem machen könnte.
El-Sisi schränkte jedoch ein, dass die Fähigkeit seines Landes, zu helfen, Grenzen habe. »Natürlich haben wir Mitgefühl. Aber wir müssen trotzdem immer unseren Verstand einsetzen, um Frieden und Sicherheit auf eine Weise zu erreichen, die uns nicht viel zu viel kostet«, sagte er und hob hervor, dass Ägypten bereits neun Millionen Migranten beherbergt. Zudem gebe es die Sorge, dass durch eine generelle Grenzöffnung »die palästinensische Sache eines eigenen Staates« gefährdet sei. »Deshalb ist es wichtig, dass das palästinensische Volk standhaft und präsent auf seinem Land bleibt«, sagte el-Sisi.
Obwohl Kairo regelmäßig bei Konflikten zwischen Israel und Gaza vermittelte, lehnte die dortige Regierung es stets ab, die Grenze für palästinensische Flüchtlinge zu öffnen. Allem Anschein nach wird es auch diesmal nicht geschehen, denn man befürchtet zudem, dass Jerusalem die Krise nutzen könnte, um den Gaza-Konflikt auch zum Problem des Nachbarn zu machen. El-Sisi will das unter keinen Umständen: »Ägypten wird nicht zulassen, dass die palästinensische Sache auf Kosten anderer Parteien geregelt wird.«
Die Lage an der Grenze zum Libanon verschärft sich
Währenddessen verschärft sich die Lage an der Grenze zu einem anderen Nachbarn: Libanon. An Israels Nordfront nehmen die Spannungen mit jedem Tag zu. Die Hisbollah hatte am frühen Sonntag damit begonnen, Panzerabwehrraketen auf israelische Militärziele sowie eine israelische Gemeinde nahe der Grenze abzufeuern. Ein Israeli wurde von den Hisbollah-Geschossen getötet, mehrere Menschen verletzt.
Darüber hinaus gaben Hamas-Truppen im Libanon an, 20 Raketen gen Israel geschossen zu haben. Innerhalb weniger Tage nach den Hamas-Massakern evakuierte die Armee fast alle Bewohner der landwirtschaftlichen Gemeinden im Umkreis von vier Kilometern um den Gazastreifen.
Am Montag wurden auch Ortschaften im Norden des Landes geräumt. Die IDF und das israelische Verteidigungsministerium erklärten, dass sie Bewohner aus 28 Gemeinden entlang der Grenze zum Libanon in Sicherheit bringen würden, die in einem Umkreis von zwei Kilometern vom Grenzzaun entfernt sind. Die Bewohner würden in Hotels und Gästehäuser gebracht, die von der israelischen Regierung bezahlt werden.
Dass sich Israel auf eine monatelange Bodenkampagne in Gaza vorbereite, berichteten lokale Medien am Wochenbeginn. Auch ägyptische Quellen sprechen davon. Die sagen auch, dass Jerusalem angeblich Kairos Bemühungen, irgendeine Art von Deeskalation zu vermitteln, bislang zurückgewiesen hätte. Man wolle der Hamas einen vernichtenden Schlag versetzen, bevor man über Verhandlungen und eine eventuelle Feuerpause nachdenke. Aus dem Büro des Premierministers Benjamin Netanjahu kam am Montag eine klare Botschaft: »Es gibt keinen Waffenstillstand.«