Der 9. November ist da. Der Tag des alljährlichen »Nie Wieder«. Ausdrucksstarke Reden, zahlreiche Versprechen und Beteuerungen von Menschen mit ernsten Gesichtern, nachdem das vergangene Jahr uns Juden weder hat schlafen noch durchatmen lassen. Eben wegen dieses Antisemitismus, der in unserer Gesellschaft angeblich keinen Platz hat. Eben wegen des Judenhasses, der uns trotzdem auf Schritt und Tritt in fast alle Bereiche des Alltags folgt.
Ich bin Mutter, Jüdin, Lehrerin und Studentin an der Freien Universität in Berlin. Vor allen Dingen aber bin ich müde. Müde von den zahlreichen Kämpfen der vergangenen Monate, mit Schulleitungen, mit der Universität, mit der Politik, mit Menschen, die Antisemitismus gewähren lassen. Die für eine Antisemitismus-Resolution mehr als ein Jahr brauchen, weil sie sich nicht auf eine Definition dessen einigen können, was es zu bekämpfen gilt. Seit dem 7. Oktober 2023, seitdem Judenhass das Land überrollt, völlig offensichtlich, ohne jede Heimlichkeit. Jetzt darf man es ja sagen. Diese Juden wieder, nervtötend, überall nach Macht greifend. Also nicht Juden, sondern Zionisten. Oder doch Juden? Ach egal, die alle halt, die Israelis.
Schüler wünschen auf deutschen Schulhöfen und Straßen Juden den Tod und Israel
Schüler wünschen auf deutschen Schulhöfen und Straßen Juden den Tod und Israel, einem demokratisch legitimierten Staat, die Auslöschung. Türen, Tische, Wände sind voll mit Parolen, die bewusst übersehen werden. Antisemitismus wird normalisiert, gehört zum Schulalltag wie die Klingel oder das Pausenbrot. So wie jüdische Jugendliche und Lehrende, die sich im Schulleben nicht outen, die öffentliche Schulen in Scharen verlassen und sich ghettoisieren, erneut.
Aus Angst vor Verharmlosung, vor Relativierung, vor Gewalt. Vor Ausschreitungen, die es an deutschen Schulen und Universitäten jeden Tag aufs Neue gibt. Und das in diesem Land, das einst Todesfabriken baute, um das jüdische Volk vollends auszulöschen. Das den Antisemitismus deshalb doch ernst nimmt und niemals toleriert.
»Juden Hurensöhne«, so hallt es immer öfter durch die Flure
Tische, Wände, alles ist vollgeschmiert. »From the River to the Sea«, »Fuck Israel« und Hakenkreuze sind normale Kulisse, vor der wir, jüdische Lehrkräfte, unterrichten und jüdische Schüler lernen müssen. Von der männlichen Schulleitung gibt es verwunderte Blicke: »Wirklich? Wir haben Schmierereien? Ich gehe ja in der Regel nicht auf Mädchentoiletten. Woher hätte ich es wissen sollen?« Ein versuchter Witz, der nicht witzig ist. Von den Kollegen gibt es Ignoranz oder leere Versprechen, man würde die Schmierereien entfernen. Ein halbes Jahr später sehen die Toiletten aus wie immer. »Juden Hurensöhne«, so hallt es immer öfter durch die Flure.
Was machen wir mit diesem Hass auf den jüdischen Staat, auf die Juden? Nichts.
Universitätsgebäude sind von Schreien nach »One Solution – Intifada Revolution« erfüllt, und jüdische Studierende müssen sich gegenseitig warnen, welche Bereiche sie besser meiden sollten. Endlösung, No-go-Areas für Juden, Ghettos, hatten wir das nicht schon mal? Vor 80 Jahren oder so? Da war doch was. Aber ausschließlich an Gedenktagen, den Daten des lauten »Nie Wieder«, die das restliche Jahr über in den Kellern der Geschichte verstauben.
Plakate mit Bildern der Geiseln werden mit dem Verweis auf die neutrale Schule abgehangen, das universelle Menschenrecht auf Freiheit, das diesen Menschen mit unvorstellbarer Brutalität entrissen wurde, wird übergangen. Aber wenn unsere mit Al-Jazeera sozialisierten Schüler an diesen Bildern vorbeilaufen, können sie mit den Gesichtern nichts anfangen, und statt Empathie fühlen sie noch mehr Hass auf Israel, als sie ohnehin schon haben.
Was machen wir mit diesem Hass auf den jüdischen Staat, auf die Juden? Nichts. Außer am 9. November, dann heißen wir alle Juden willkommen, auch an den Bildungseinrichtungen dieses Landes.
Schulen und Universitäten sind blind und taub
Bildungseinrichtungen, an denen sich der Bildungsauftrag in Luft aufzulösen scheint, sobald es um Juden geht. Wo wir vor der israel- und judenhassenden Community kuschen, statt uns mit der Feindseligkeit auseinanderzusetzen, so sensibel das Thema auch sein mag. Gute Idee eigentlich mit dem Workshop für Schüler. Aber wir haben schon so viel Programm, und aus welchem Topf soll ich die 20 Euro Fahrgeld für den Referenten nehmen?
Schulen und Universitäten sind blind und taub. Antisemitismus wird übersehen oder normalisiert. Wir Juden sind wieder zu sensibel, zu fordernd, unbequem. Ständig fühlen wir uns bedroht, dabei sei doch alles gar nicht so schlimm. Kinder und Jugendliche in Schulen, Studenten an Universitäten, Mütter und Väter jüdischer Kinder sind allein auf hassbeschmierter weiter Flur. Umgeben von Gedenktagen und einer Erinnerungskultur, die so marode ist wie das Schulsystem selbst.
»Mama, was bedeutet ›Free Palestine‹?«
Fällt die Wahl auf Israel, gibt es Schläge
Wir stehen in der Umkleide einer Schulturnhalle, in der Kinder, auch jüdische Kinder, trainieren. Ich weiche aus, versuche die einfache Variante, ertrage diesen Schmerz nicht, der auch nach meinem Kind greift. Und beende meinen kläglichen Versuch einer Erklärung mit der üblichen Warnung. »Du weißt doch, jetzt lieber kein Chanukka-Lied singen. Und auch niemandem erzählen, dass Opa in Israel lebt.« Schon in der zweiten Klasse sollen Kinder auf Schulhöfen die Palästina-Israel-Frage beantworten. Fällt die Wahl auf Israel, gibt es Schläge.
In der Bildung ist währenddessen alles schwierig, vor allem aber der Kampf gegen Antisemitismus. Verpflichtende Module zur Antisemitismusprävention in der Lehrausbildung wegen des Föderalismus, das Abhängen von Apartheid- und Genozid-Plakaten an der FU wegen des Dialogs, das Entfernen judenfeindlicher Schmierereien in Schulen wegen Überschaubarkeit. Was bleibt, ist das alljährliche Hochhalten der toten Juden, die sich nicht mehr beschweren können. Und Schul-Curricula, in denen der Schutz lebender Juden keinen Platz hat. Und eine Bundestagsvizepräsidentin von der SPD, die Israelhass auf Social Media postet – ohne Konsequenzen.