Was antisemitisch ist, darüber wurde und wird regelmäßig heftig gestritten. Selten aber mit einer derartigen Vehemenz wie im Herbst 1985, als der neue Intendant des Frankfurter Schauspielhauses, Günther Rühle, das Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod von Rainer Werner Fassbinder wieder ins Programm nahm, nachdem es im Jahr vorher aufgrund des Protests der jüdischen Gemeinde abgesetzt worden war. Das Drama traf mehrere Nerven auf einmal. Ganz allgemein musste man sich fragen, ob ein Stück, dessen negativer Protagonist einfach »der reiche Jude« hieß, in Deutschland 40 Jahre nach der Schoa aufgeführt werden könne und solle.
Zudem fühlten sich die Frankfurter jüdischen Immobilienmakler als Sündenböcke für die allgemeine Wohnungsmisere angeprangert. Den Hintergrund hierfür bildete ein jahrelanger, wenn nicht jahrzehntelanger antijüdischer Grundton in den Diskussionen um Frankfurter Bauspekulationen. Das Ganze spielte sich in einer ohnehin schon aufgeladenen Atmosphäre ab, nachdem im Mai Bundeskanzler Kohl und US-Präsident Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg mit seinen Waffen-SS-Gräbern besucht hatten.
Vorwurf Diesmal stand der Gegner allerdings nicht im politisch konservativen, sondern im vermeintlich fortschrittlich linken Lager. Rainer Werner Fassbinder schien vielen über jeden Vorwurf des Antisemitismus erhaben. Nicht jedoch den Mitgliedern der Frankfurter jüdischen Gemeinde, die in der Figur des »reichen Juden« ihren Vorsitzenden, Ignatz Bubis, der selbst für Sanierungen im Westend verantwortlich gewesen war, zu erkennen glaubten.
Gemeinsam mit Bubis besetzten etwa 25 Gemeindemitglieder am Abend der geplanten Premiere, am 31. Oktober 1985, die Bühne, um gegen den »subventionierten Antisemitismus« zu protestieren. Im Publikum forderten andere, darunter der ehemalige Hausbesetzer Daniel Cohn-Bendit, ein Ende der Bühnenbesetzung und die Aufführung des Stückes. Dazu kam es nicht. Der Müll, die Stadt und der Tod wurde schließlich vom Spielplan genommen und bis 2009 an keinem deutschen Theater gespielt.
Für das jüdische Leben in der Bundesrepublik markierte diese Bühnenbesetzung einen entscheidenden Einschnitt. Erstmals verließen sich führende Repräsentanten jüdischen Lebens nicht auf die altbewährten diplomatischen Kanäle, um ihren Protest zu signalisieren, sondern traten im Rampenlicht der Öffentlichkeit auf, um ihre Frustration kundzutun. Diese Art der öffentlichen Debatte, die sich bereits in Bitburg angedeutet hatte, sollte sich während der 90er-Jahre wiederholen. Da war Ignatz Bubis Präsident des Zentralrats geworden, Fassbinders »reicher Jude« aber weitgehend in Vergessenheit geraten.