Herr Wiese, Sie haben eine Ringvorlesung zur jüdischen »Generation 1914« in Europa konzipiert. Was versteht man darunter?
Ganz allgemein gesprochen ist das die Generation junger Juden, die unmittelbar vom Ersten Weltkrieg in Mitleidenschaft gezogen wurde: entweder, weil sie selbst in den Krieg ziehen mussten oder dadurch, dass sie in ihrer Existenz und ihrem Denken davon geprägt wurden.
Gab es eine spezifisch jüdische Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs?
Natürlich war der Krieg für alle, die ihn erleben mussten, ein wirklich existenzieller Einschnitt. Und doch bedeutete er für europäische Juden eine besondere Herausforderung, schon weil jüdische Soldaten in feindlichen Armeen kämpften. Der während des Krieges aufbrandende Antisemitismus und die antijüdische Massengewalt in Osteuropa waren für viele erschütternde Kriegsfolgen. Aber auch der Zionismus als breite Bewegung ist nicht ohne die Balfour-Deklaration von 1917 zu verstehen, die Juden das Recht auf eine eigene nationale Heimstätte in Palästina zugestand.
Hat der Erste Weltkrieg ein multireligiöses Nebeneinander zerstört? Oder beschönigt man so die Zeit vor 1914?
Wenn man sich Deutschland anschaut oder auch Frankreich und England, wo es eine stark integrierte jüdische Gemeinschaft gab, sieht man, dass der Krieg für Juden zunächst ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl zur jeweiligen Nation bewirkt hat. Viele Juden, gerade in Deutschland, meldeten sich freiwillig, um Ressentiments zu begegnen und ihre Zugehörigkeit zum Vaterland zu beweisen. Gleichzeitig machten die deutschen Juden schon 1916 die Erfahrung der »Judenzählung«, einer mehr als diffamierenden und ausgrenzenden Registrierung jüdischer Soldaten.
War da der Antisemitismus der Weimarer Republik schon angelegt?
Der Antisemitismus nach 1918 ist ohne den Weltkrieg nicht zu erklären: die Rede vom »Diktat von Versailles« oder die Mär vom »jüdischen Bolschewismus«. Und mit der Ermordung des jüdischen Außenministers Walther Rathenau 1922 wurde schon früh ein Zeichen gesetzt.
Wie aktuell ist Ihre Ringvorlesung?
Wenn wir an den Ersten Weltkrieg erinnern, dann kann man gar nicht von Gewalt und Kriegsgefahren der Gegenwart absehen. Vielleicht sind da gerade die jüdischen Reaktionen vor 100 Jahren, der rasche Übergang von Enthusiasmus und Patriotismus zu tiefer Ernüchterung, von Interesse.
Gibt es diese Ernüchterung noch?
Derzeit fällt auf, dass unbefangener als früher wieder von militärischen Optionen und Kaltem Krieg in Europa die Rede ist. Erschreckend ist für mich, wenn ich die aktuellen Diskussionen verfolge, dass die geschichtlichen Lehren über das Ausmaß von Gewalt und Leid, die ein Krieg mit sich bringt, in den Hintergrund zu treten scheinen.
Mit dem Frankfurter Professor für jüdische Religionsphilosophie sprach Martin Krauß.