Bei den Wahlen am Sonntag hatten Recep Tayyip Erdogan und seine AKP bei uns in Deutschland wieder eine wesentlich höhere Zustimmung erzielt als in der Türkei. Aber warum wählen viele Türkeistämmige einen demokratiefeindlichen Autokraten?
Bei dieser Frage dürfen wir, bei aller Kritik an den Zuständen in der Türkei, der Agitation von AKP-Ablegern in Deutschland und staatlich kontrollierten Strukturen wie dem Moscheeverband DITIB, einen Fehler nicht begehen: die Verantwortung der deutschen Gesellschaft und Politik völlig ausklammern.
Viele Erdogan-Anhänger in Deutschland sind überzeugt davon, dass sie Teil einer »heiligen Mission« sind.
Denn Erdogan betreibt seit über 20 Jahren eine intensive Diasporapolitik und erreicht mit einer emotionalen Ansprache viele Türkeistämmige in Deutschland. Er hat es geschafft, mit einer nationalistisch-identitären Agenda Diskriminierungserfahrungen für seine politischen Zwecke zu missbrauchen und bei vielen Türkeistämmigen das Gefühl zu vermitteln, dass er ihr Fürsprecher und großer Bruder sei. Er hat damit Ressentiments unter ihnen gegenüber der deutschen Gesellschaft und Politik geschürt und Einfluss genommen auf unser gesellschaftliches Zusammenleben.
feindbilder Viele seiner Anhänger in Deutschland sind überzeugt davon, dass sie Teil einer »heiligen Mission« sind, die Türkei unter seiner Führung zur neuen Weltmacht zu machen. Sie sind überzeugt, dass die Türkei unter Erdogan einen Unabhängigkeitskampf gegen alle dunklen Mächte – »den Westen«, die USA und die internationale Zinslobby, die von Juden kontrolliert werde – führe. In diesem Milieu haben wir es oft mit ähnlichen Feindbildern zu tun, wie bei Putin-Anhängern und »Querdenkern«.
Diese aggressive Diasporapolitik haben wir lange Jahre nicht wahrgenommen oder nicht wahrnehmen wollen. Wenn wir uns darüber empören, warum so viele in Deutschland Erdogan wählen, dann sollten wir uns fragen, warum wir all die Jahre Erdogans Agitation ignoriert und dem nichts entgegengesetzt haben.
Der Autor ist Gründer der Alhambra-Gesellschaft – Muslime für ein plurales Europa.