Tag 377 brachte endlich die ersehnte Meldung. Yahya Sinwar ist tot. Ein kurzes Durchatmen, ein heilender Moment für die traumatisierte jüdische Seele. Ein Kriegsziel ist erreicht, aber noch immer sind über 100 Geiseln in den Händen der Hamas.
Der Drahtzieher des Schreckens vom 7. Oktober wurde durch den Kopfschuss eines 19-jährigen IDF-Soldaten getötet, aber der Schrecken lebt weiter. Unsere Welt ist aus den Fugen, und sie wird es für immer sein.
»Es ist die tiefste Verletzung der jüdischen Psyche seit dem Zweiten Weltkrieg – und sie wird es auch bleiben«, sagt die israelisch-französische Soziologin Eva Illouz.
Der 7. Oktober hat unsere Welt für immer in ein »Davor« und ein »Danach« geteilt, und er steht für die Explosion eines weltweiten Judenhasses, den Beginn eines neuen globalen Krieges. Israel führt heute Krieg an sieben militärischen Fronten. An der achten, der politischen Front, sind wir alle, quasi als »jüdische Heimatfront«, beteiligt, ob wir wollen oder nicht.
Leugnen, relativieren, entschuldigen, verschweigen
Wir erleben ein so groteskes Ausmaß an Verzerrung, dass auch gerechtfertigte Kritikpunkte darin untergehen und nicht mehr zu uns durchdringen, auch weil wir uns in einem ständigen Abwehrkampf gegen die Macht der Bilder und der Propaganda befinden.
Ihre Strategie: leugnen, relativieren, entschuldigen, verschweigen. So hat die interne UN-Untersuchung zur Verstrickung der UNRWA mit der Hamas offenbar so viel Dreck aufgewirbelt, dass Israel nur ein Konvolut geschwärzter Seiten geschickt wurde.
Auch die Entdeckung, dass die Terrororganisation Hisbollah in unmittelbarer Nähe zum UNIFIL-Stützpunkt Tunnel bauen konnte, Waffen stationierte und ein noch größeres Massaker als vor einem Jahr vorbereitete, sorgt kaum für internationale Empörung. Die Mischung aus historischem Unverständnis und einseitiger Parteinahme hat Folgen.
Pogrome gehören nicht zur kollektiven Erinnerung der Deutschen. Für Juden aber sind sie tief im historischen Gedächtnis verankert
Es wird rauer und gefährlicher an der achten, der politischen Front, die auch mitten durch unser Leben verläuft. Seit dem größten Massaker an Juden seit der Schoa wurden in Deutschland so viele antisemitische Straftaten registriert, dass Polizei und Justiz nicht nachkommen.
Wir verstehen die Welt nicht mehr, und sie versteht uns nicht. Hierzulande führten zwei terroristische Messerattacken in Mannheim und Solingen mit vier Toten zu neuen Gesetzen und Wahlerfolgen der rechtsradikalen AfD.
Was wäre wohl los, wenn Tausende Menschen hier in Dörfern und bei einem Open-Air-Festival überfallen, vergewaltigt, verstümmelt, ermordet und verschleppt worden wären? Wie wäre es dann wohl um die Demokratie in Deutschland bestellt? Unvorstellbar, denn Pogrome gehören nicht zur kollektiven Erinnerung der Deutschen. Für Juden aber sind sie tief im historischen Gedächtnis verankert.
Das Sicherheitsversprechen Israel
Israel, der jüdische Staat, der nach der Schoa gegründet wurde, auch und gerade, damit Juden nie wieder wehrlose Opfer sein würden, war stets auch ein Sicherheitsversprechen an die Diaspora – ein Versprechen, das Israel an diesem »Schwarzen Schabbat« nicht halten konnte und vielleicht nie mehr wird halten können.
Wir sind einsam und verletzlich, und viele haben Angst, ziehen sich in die jüdische Gemeinschaft zurück, weil sie die Diskussionen auch mit vermeintlich guten Freunden, Nachbarn und Arbeitskollegen, diese aufreibenden Kämpfe an der achten Front so leid sind.
Die Erfahrung von Einsamkeit gehört fortan zum Leben hier dazu. Genauso wie der Verrat der angeblich progressiven Kräfte. Wenn es darauf ankommt, ist keiner da. Nicht das Internationale Rote Kreuz, nicht Amnesty International und die Vereinten Nationen ohnehin nicht.
Der perfide Plan, Israel in einen Überlebenskampf zu zwingen mit unvermeidlich vielen zivilen Opfern, um so die politische und moralische Diskurshoheit auf der Weltbühne zu erlangen, ist weitgehend aufgegangen. Der asymmetrische Krieg kennt keinen Ausweg aus dem Dilemma, schuldig werden zu müssen an Unschuldigen, um das Leben von Unschuldigen zu retten.
Unbewusster Abwehrkampf gegenüber unserer eigenen Empathie
Und so befinden wir uns auch in einem unbewussten Abwehrkampf gegenüber unserer eigenen Empathie für die unschuldigen Opfer der Gegenseite, vor allem die vielen getöteten Kinder. Aber: Den Kampf ums Überleben muss und wird Israel gewinnen! Den Kampf gegen unsere Empathie dürfen wir nicht gewinnen! Es geht eben nicht nur um den militärischen Sieg, es geht auch um die Seele Israels.
Wie wird dieser verlustreiche Krieg, das Wissen, Tausende, vielleicht sogar über Zehntausende Kinder und Frauen getötet zu haben, Israels Selbstverständnis verändern? Und wie werden wir künftig hier in Deutschland zusammenleben?
Am 9. November werden wir wieder »Nie wieder ist jetzt« hören, aber um es mit Leben zu füllen, müsste klar sein, was denn da »nie wieder« passieren soll. Aus jüdischer Sicht heißt es, nie wieder wehrlos, nie wieder Opfer zu sein. Aus deutscher Sicht dagegen wird es zunehmend nicht als Schutz jüdischen Lebens übersetzt, sondern als allgemeine Maxime, »nie wieder« einen »Genozid« geschehen zu lassen, um endlich die Staatsräson ad acta legen zu können.
Der Feind unseres Feindes ist eben nicht unser Freund.
Die schamlose Parole »Free Palestine from German guilt« ist nichts anderes als die linke Version der rechten Schlussstrich-Forderung. Und wenn jetzt am 7. Oktober in Zeitz Stolpersteine aus dem Boden gerissen wurden, dann ist unklar, ob die Täter rechts- oder linksextrem oder islamistisch sind.
»Volkszorn« und »Kriegstreiber«
Der Feind unseres Feindes ist eben nicht unser Freund. Das gilt auch und insbesondere für die AfD. Die Angst vor islamistischem Terror beschert der AfD Stimmen. Schon bald wird sich der »Volkszorn« gegen Israel richten, den »Kriegstreiber«, der die Araber provoziert und so schuld ist an der gestiegenen Gefahr bei uns.
Die Forderung nach dem Stopp der Waffenlieferung an Israel zum Schutz der Deutschen wird lauter werden. Demokratiefeinde und Rassisten können niemals Verbündete im Kampf gegen Rassismus sein.
»Weil wir als Juden Teil einer verletzlichen Gemeinschaft sind, weil wir wissen und uns erinnern, wie es ist, als Fremder und als Feind markiert zu werden«, sagte Josef Schuster am 6. Oktober 2024 bei der Solidaritätskundgebung in München, »werden wir immer die Verletzlichen und die sogenannten Fremden verteidigen«.
Deshalb auch fuhr Ignatz Bubis sel. A. im August 1992 während der rassistischen, gewalttätigen Krawalle nach Rostock-Lichtenhagen, um seine Solidarität mit den Opfern zu zeigen. An diese Grundhaltung hat Michel Friedman im Landtag bei seiner Rede anlässlich der Gedenkstunde für Oskar Schindler erinnert. »Jeder ist jemand«, zitierte er George Tabori und hielt den AfD-Abgeordneten vor, dass für sie einige ein »Niemand« seien.
Für Judenfeinde zählt nicht der Einzelne
Auch für die Terroristen des 7. Oktober 2023 war der Einzelne ein »Niemand«. Die Bewohner der Kibbuzim im Süden und die jungen Leute, die zum Nova-Festival in die Wüste gekommen waren, wurden nicht massakriert, weil sie sich aus Sicht ihrer Feinde persönlich schuldig gemacht hatten, sondern nur, weil sie Teil des feindlichen Kollektivs waren.
Geschichte wiederholt sich nicht, aber es gibt blutige Konstanten in der jüdischen Geschichte der Verfolgung. Einmal mehr gilt: Für Judenfeinde zählt nicht der Einzelne, sondern seine Gruppenzugehörigkeit. Diese bittere Lektion lernen gerade auch viele linke Israelis, zumal in Berlin. Es ist genau dieses Denken, dem anderen sein Menschsein, seine Würde, seine Individualität abzusprechen, welches in die Barbarei und den Untergang führt. Der Frage der Verhältnismäßigkeit dürfen wir deshalb nicht ausweichen. Wie viele tote Frauen und Kinder ist ein Hamas-Kommandeur wert?
Möglichst viele – das ist die Propagandalogik der Hamas, denn im Heiligen Krieg zählt nicht der Einzelne, sondern das Kollektiv. Dieses Denken, das den anderen zu einem »Niemand« macht, dürfen wir uns nie zu eigen machen. Wir dürfen nicht werden wie unsere Feinde, müssen unsere Empathie gegen den Hass verteidigen, die Traumatisierung überwinden.
Mit den Bildern des 7. Oktober und dem Wissen, dass dieser Hass, anders als etwa beim russischen Massaker in Butscha, jubelnd geteilt wurde, dass die Mörder als »Widerstandskämpfer« gefeiert und dass es gerade Menschen in Kultur und Wissenschaft sind, die sich daran beteiligen, werden wir leben müssen.
Einmal mehr haben wir erfahren, warum es den jüdischen Staat geben muss.
Wir haben den bitteren Verrat vermeintlicher politischer Weggefährten, das Wegducken von Freunden und die Komplizenschaft der Vereinten Nationen mit den Mördern erlebt. Einmal mehr haben wir erfahren, warum es den jüdischen Staat geben muss, einen Platz, an dem Juden nicht in der Minderheit und nicht dem Wohlwollen, der Duldung oder der Willkür der Mehrheit ausgeliefert sind. Einen Staat, der stark ist, sich wehrt und die Demokratie verteidigt, auch gegen die eigene Regierung. Einen Staat, der die jüdische Moral nicht verrät, der festhält an der Überzeugung, dass jeder jemand ist und der sich dem Gebot »Sei ein Mensch« verpflichtet fühlt.
Das gilt auch für uns hier. Das erste Trauerjahr ist vorbei. Wir müssen ins Leben zurück. Wir müssen wieder sichtbar werden, und wir dürfen uns nicht der Wut überlassen, müssen der eigenen Verrohung entgehen. Wir dürfen die Augen nicht vor den Bildern der Kinder in Gaza verschließen. »Sei ein Mensch« kennt kein »Aber«, nur das »Und«.
Die Autorin ist Journalistin und Filmemacherin.