Sie dienen der Vernetzung von Menschen und dem leichten und schnellen Informationstransfer. Sie bieten Raum für die Dokumentation schöner Landschaften, leckeren Essens, schicker Outfits, Glamour, Comedy, Konzertbesuchen und des Alltagstrotts – die sozialen Medien. Trotz dieser positiven Elemente scheint es so, als würden die sozialen Netzwerke dieser Tage mit Hass, Hetze und gefährlicher Desinformation überflutet werden. Mit dieser Entwicklung sind die Plattformen offensichtlich überfordert.
In den letzten Jahren veränderten sich nicht nur die Beitragsinhalte, sondern auch die Art und Weise, wie Inhalte in den sozialen Medien erstellt und konsumiert werden. Ein wesentlicher Grund dafür ist auch das Erscheinen der Plattform TikTok, die als disruptive Innovation in die Social Media-Sphäre eintrat.
Während die inzwischen traditionell gewordenen sozialen Netzwerke, wie Facebook und Instagram, lange an Feeds, die sich nur per Klick erneuern, und längeren Inhalten festhielten, bot TikTok erstmals kurze, algorithmusgesteuerte Videos auch außerhalb des persönlichen Bekanntenumfelds an, die direkt auf die Interessen der Nutzer zugeschnitten sind. Das hat nicht nur das Nutzerverhalten verändert, sondern auch eine neue Generation von Content Creators mit neuen Storytelling-Techniken hervorgebracht.
TikTok hat das Geschäftsmodell der Werbung und des Influencer-Marketings revolutioniert, indem es schnelle, virale Trends und hohe Interaktivität ermöglicht. Das haben sich andere Plattformen abgeschaut und ihre Algorithmen angepasst. So werden nun Kurzvideos mit vielen Reaktionen häufiger in die Feeds der Nutzer gespült.
Emotionalisierung und Desinformation bringen Klicks
Immer häufiger werden die Plattformen nicht mehr nur für privaten Lifestyle Content verwendet, sondern auch für die Verbreitung politischer Botschaften. Auch wenn darin eine große Chance liegt, Menschen über wichtige Themen zu informieren oder sie für ein Anliegen zu sensibilisieren, werden die Plattformen immer mehr auch für Desinformation und verhetzende Inhalte missbraucht.
Die Plattformen arbeiten mit Emotionen. Je mehr Emotionen ein Video erzeugt, desto mehr Menschen reagieren darauf. Populistische und extremistische Inhalte, die bei den Nutzern starke Emotionen hervorrufen, finden bedauerlicherweise eine große Verbreitung.
Sekündlich werden Millionen Beiträge weltweit ins Netz gepumpt. Ist der Inhalt einmal draußen, gibt man auch gewissermaßen die Kontrolle darüber ab, was mit dem Inhalt weiter passiert.
Besonders in Zeiten, in denen Künstliche Intelligenz eingesetzt wird, ist es nicht verwunderlich, dass auch Desinformation und verfälschte Inhalte verbreitet werden. Sie werden sogar bewusst gestreut, um Menschen zu manipulieren, wie etwa von Populisten im Wahlkampf, um potenzielle Wähler für sich zu gewinnen.
Ob es um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine oder den Krieg in Gaza geht: Das Netz ist voller Lügen, Verschwörungsmythen und Propaganda. In all der Informationsflut bedarf es einer enormen Kraftanstrengung, diesen digitalen Raum aufzuräumen, aufzuklären und die Lüge von der Wahrheit zu trennen. Nach dem 7. Oktober ist dies kaum mehr zu leisten.
Das, was an diesem Tag und an all den folgenden Tagen geschehen ist, fühlt sich an, wie ein nicht enden wollender Albtraum. Die Hamas-Terroristen drangen aus Gaza nach Israel ein, massakrierten junge Menschen auf einem Musikfestival, vergewaltigten Frauen, ermordeten Babys und Greise in den Kibbuzim und entführten mehr als 250 Geiseln nach Gaza. Die Hamas nutzte außerdem die sozialen Netzwerke dafür, diese Bestialität zur Schau zu stellen und ihre Propaganda zu verbreiten. Diesen Schrecken zu ertragen, ist kaum möglich. Dass seit dem 7. Oktober weltweit hunderttausende Menschen Tag für Tag auf die Propaganda hereinfallen, sich radikalisieren und das Massaker sogar für gerechtfertigt halten, multipliziert den Schmerz um ein Tausendfaches.
Künstliche Intelligenz hilft der Propaganda
Reichweitenstarke Accounts geben der Propaganda noch zusätzliche Sichtbarkeit. Schnell wird eine Grafik oder ein Video erstellt, die Millionen Menschen erreichen können. Ende Mai 2024 hat es ein KI-generiertes Bild in die Stories von Millionen selbsternannter Social Justice Warriors geschafft: Es war ein Bild, das ein gigantisches Flüchtlingslager in einer Wüste darstellen soll. Im Hintergrund waren Gebirge mit Schnee zu sehen. Zu lesen war auf dem Bild »All Eyes on Rafah«.
In den Vortagen hatte Israel eine Militäroffensive im südlichen Gazastreifen gelegenen Rafah begonnen. Rafah gilt als Hochburg der Terrororganisation Hamas, wo viele Geiseln, die am 7. Oktober entführt worden sind, vermutet wurden. Inzwischen hat sich diese Vermutung bewahrheitet. In Rafah befanden sich in dieser Zeit etwa 1,2 Millionen Palästinenser, die teilweise aus dem Norden des Gazastreifens geflohen waren. Die Militäroffensive stieß deshalb international auf Kritik. Beim Internationalen Gerichtshof wurde von Südafrika sogar ein Antrag gegen Israel aufgrund des Verdachts des Verstoßes gegen die Völkermordskonvention eingebracht. Das Gericht wies Israel an, den Militärangriff einzustellen. Israel setzte die Militäroperation jedoch fort.
Obgleich Politiker, Völkerrechtler und Militärs über die Rechtmäßigkeit des Angriffs diskutieren können, ist das Teilen eines Bildchens in den sozialen Netzwerken, worauf »All Eyes on Rafah« steht, maximal unterkomplex und gratismutig. Diese Menschen teilten dieses Bild und gingen derweil nicht auf die Geiseln ein, die ebenfalls in Rafah festgehalten wurden. Sie sagten nichts dazu, dass Israel nach dem 7. Oktober immer wieder aus Rafah mit Raketen angegriffen wurde; dass sich Hamas-Terroristen in Rafah befanden und es zu deren Strategie gehört sich hinter Zivilisten zu verstecken.
Die Hamas ist der Auslöser für den Krieg und der einzige Grund, warum Israel in Gaza militärisch operiert und sich gegen genozidale Terroristen wehrt, deren erklärtes Ziel die Auslöschung des jüdischen Staates ist. Die allermeisten der Menschen, die millionenfach dieses »All Eyes on Rafah« teilten, haben absolut keine Ahnung von dem Konflikt oder der Region. Sonst hätte sich immerhin jemand darüber gewundert, dass im Hintergrund Schnee zu sehen ist, auf einem Bild, das Gaza darstellen soll.
Bekenntniszwang zeigt Schlagkraft des Internet-Aktivismus
Dieser Zwang, sich zu positionieren, dominiert inzwischen nicht nur die politische Debattenkultur, sondern auch die sozialen Medien. Das Beispiel »All Eyes on Rafah« zeigt die Schlagkraft des Internet-Aktivismus. Sogar das Auswärtige Amt beugte sich dem Trend und veröffentlichte auf der eigenen Instagram Seite einen Beitrag auf dem »All Eyes on Rafah« mit 18 Ausrufezeichen und einem »Wir hören Euch« zu lesen war.
Gegen das millionenfache Teilen eines bestimmten Narrativs kommt man kaum an. Wir Jüdinnen und Juden sind in der absoluten Unterzahl. Und sogar innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gibt es jene, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, als Tokens antisemitische Ressentiments zu verbreiten und sich damit einen Namen zu machen. Doch selbst mit Hilfe von israelsolidarischen und antisemitismuskritischen Personen und Organisationen ist es kaum leistbar, all den Hass und die Hetze einzufangen und die Lügen zu entlarven.
Doxing als Aufruf zur Hetzjagd
Zudem greift ein weiterer Trend um sich, der die Aufklärungsarbeit enorm erschwert: Doxing. Es werden Informationen über eine Person gesammelt, um sie anschließend öffentlich bloßzustellen und den Hatern auszuliefern.
Nachdem ich von ein paar antisemitischen Accounts auserkoren und öffentlich zur Angriffsfläche erklärt wurde, habe ich im Sekundentakt Beleidigungen und Drohungen erhalten. Ich kam mit dem Löschen, Melden und Blockieren gar nicht hinterher. Kommentare unter allen möglichen Bildern, private Nachrichten, verächtliche Postings mit meinem Gesicht drauf… Es wurde sogar ein Fake-Account von mir auf X erstellt, der rassistischen und antisemitischen Müll unter der Verwendung meines Namens veröffentlicht. Das Perfide dabei ist: man kann nichts dagegen tun. Die Accounts der Hetzer werden nicht gesperrt, sie können ihren Hass ohne Probleme weiterverbreiten und ein sich selbst als Parodie-Account inszenierender Account hat trotz der Identitätsaneignung rechtlich freie Hand.
Es scheint oft so, als wäre das Internet ein rechtsfreier Raum. Dabei sollten eine konsequentere Verfolgung von Straftaten im Netz und, wo notwendig, Gesetzesverschärfungen vorgenommen werden. Bei bestehender Rechtslage gibt es nämlich kaum Handlungsspielraum, sich zu wehren und die Betroffenen können sich nicht vor dem Hass schützen.
Derweil benutzen die Hamas-Terroristen die sozialen Netzwerke auch als Mittel für ihren psychologischen Terror, indem sie etwa Videos von ihren Mordopfern oder von Geiseln vor ihrer Ermordung veröffentlichen. Und ihre Unterstützer machen es ihnen nach, indem sie verhetzende und gewaltverherrlichende Inhalte produzieren und veröffentlichen.
Hass im Netz schadet der Demokratie
Laut einer Studie des Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz aus dem Februar 2024 hat etwa die Hälfte der Befragten Hass im Netz erlebt und einem Viertel wurde sogar Gewalt angedroht. Besonders betroffen sind Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund oder queere Personen. Es gibt nicht genug Angebote für Betroffene, Rat oder Unterstützung zu erhalten. Dabei sollte es mehr Anlaufstellen und Beratungsangebote, wie beispielsweise HateAid, für Betroffene von Hass im Netz geben. Ob sich die Situation durch den europäischen Digital Services Act, wonach illegale Inhalte wie Hassrede schneller entfernt werden sollen, ändern wird, ist unklar. Klar ist aber, dass die Plattformbetreiber stärker in die Verantwortung gezogen werden müssen. Dafür muss die Politik Regeln schaffen.
Aus der Studie des Kompetenznetzwerks wird ersichtlich, dass Hass im Netz sogar zum Rückzug aus den demokratischen Diskursen führt. Auch Offline ist es kaum mehr möglich, eine sachliche Diskussion mit Meinungsverschiedenheiten zu führen. In Talkshows schreien sich die Gäste bisweilen gegenseitig an, in den Parlamenten sitzen unter anderem demokratisch legitimierte Faschismus-Nostalgiker, Freundeskreise werden aufgrund politischer Differenzen immer enger. Wir müssen wieder lernen, einander mit Respekt und Empathie zu begegnen, Offline und Online.
Die Meinungsfreiheit schließt nicht das Recht auf digitale Gewalt ein. Solange es keine konsequenten Regularien seitens der Politik und Plattformbetreiber für den Umgang mit Hassrede, Desinformation oder Gewaltaufrufen gibt, solange es keinen Schutz für Betroffene von Hass im Netz gibt, bleiben die sozialen Medien leider Gefahrenzonen für deren Nutzer.
Die Autorin war Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD).