Ein Gericht in England entschied, das Leben eines zweijährigen schwerkranken jüdischen Mädchens zu beenden, sei »in ihrem besten Interesse«, da laut der Einschätzung medizinischer Experten nicht mit einer Genesung zu rechnen sei und es auch »keine Freude empfinden« werde, so der BBC-Bericht.
Die Eltern, ultraorthodoxe Juden, versuchen, diesen Gerichtsentscheid anzufechten, da er ihrer religiösen Auffassung widerspreche. In Israel löste der Fall eine Vielzahl an Reaktionen aus. Präsident Rivlin habe Prinz Charles sogar angeboten, das Kind zur weiteren Behandlung nach Israel zu bringen.
BRISANZ Dass dieser Fall derartige Aufmerksamkeit erregt, zeigt nicht nur, welch hohe Achtung jedem Menschenleben entgegengebracht wird, sondern auch die Brisanz der dahinterstehenden Fragen: Welches Leben ist lebenswert? Wer darf den moralischen Anspruch und die legitime Autorität erheben, darüber zu entscheiden? Hier prallen Welten aufeinander, die Gefahrenpotenzial bergen. Allein die Frage, ob ein Leben lebenswert ist, weckt unter Umständen Assoziationen zu dunklen Zeiten.
Der Ansatz der jüdischen Quellen ist grundverschieden von jenem des Gerichts: Der Wert eines Menschenlebens kann nicht von Menschen eingeschätzt werden, es ist unschätzbar, unendlich wertvoll.
Zeitabschnitte eines Lebens lassen sich deshalb nicht gegeneinander aufwiegen, denn das Unendliche lässt sich nicht teilen. Selbst einem Sterbenden das Leben aktiv zu verkürzen, wird vom Talmud als Mord gewertet. Und sogar ans eigene Leben Hand anzulegen, ist davon nicht ausgeschlossen.
Das Leben ist nicht Besitz des Menschen: Es wird von ihm verwaltet.
Die heiligen, sonst unantastbaren Schabbat- oder Jom-Kippur-Gesetze werden selbst für eine kurzzeitige Erhaltung und Verlängerung eines Menschenlebens verdrängt. Das Leben ist nicht Besitz des Menschen: Es wird von ihm verwaltet. Sein Wert ist nicht von der empfundenen Freude abhängig, auch wenn sie ein erstrebenswerter Bestandteil seiner Lebensqualität ist.
Sinn, Bedeutung, Aufgabe, Erfüllung durch Anbindung an Werte, die das Physische übersteigen, machen jeden Lebensmoment unendlich wertvoll und lebenswert, wie die Weisen festlegen: »Besser ist ein Moment der Umkehr und guten Taten in dieser Welt als die Gesamtheit der künftigen Welt.« Vor dem Gericht lässt sich plädieren: Das Leben ist heilig – bitte schützt es!
Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.