Antisemit will sich heute – von ein paar verrückten Neonazis einmal abgesehen – niemand mehr nennen lassen. Umso schwieriger ist es, vorkommende antisemitische Stereotype zu benennen. Gilt doch der Vorwurf des Antisemitismus in Deutschland inzwischen häufig als schlimmer als der Antisemitismus selbst. Das zeigen jüngste Geschehnisse beim WDR.
»Die Juden zahlen ja doch jetzt nicht so eine Steuer«, erzählte eine Zuhörerin in einer WDR-Call-in-Sendung über die Frage einer Moscheesteuer. Studiogast und »Experte« Erkan Arikan wie Moderator Thomas Koch pflichteten der Fehlinformation nicht nur bei, sondern spannen faktenfrei das Gerücht über »die Juden und ihre Gemeinden« weiter – ohne Not. So mutmaßte der Experte, dass diese angebliche Privilegierung der Juden »aus unserer deutschen Historie« begründet sei und fantasierte über »große ausländische Spender jüdischen Glaubens«.
BESCHWERDE Auf eine Programmbeschwerde hin wiesen Experte Erkan Arikan wie auch die Leiterin von WDR5 alle Kritik von sich. Dem Vorschlag, auf die sachlichen Fehler und ihre Hintergründe in der Mediathek hinzuweisen, folgte der WDR nicht.
Erst auf eine erneute Programmbeschwerde hin half WDR-Intendant Tom Buhrow ab und gestand ein, dass die antisemitische Kolportage ein Verstoß gegen die Wahrheitsverpflichtung in den WDR-Programmgrundsätzen war – wenngleich das Problem erneut eher kleingeredet wird.
Auch Medien sollten mehr Mut zur Selbstreflexion haben.
Was offenbart der Vorfall? Dass es zweier Anläufe beim Sender bedurfte, um das Antisemitismus-Problem als solches anzuerkennen, zeigt, wie tief antisemitische Narrative in unserem Bewusstsein eingeschrieben sind. Erzählungen von reichen Juden (großen Spendern) und angeblichen Sonderrechten für Juden wegen der Schoa sind gängige Klischees. Deshalb fallen sie zuweilen noch nicht einmal auf, wenn man darauf hingewiesen wird.
Nicht der Antisemitismuskritiker ist das Problem, sondern die Tabuisierung der Kritik an den kulturell tief wurzelnden antisemitischen Klischees, Bildern und Geschichten. Hier sollten auch die Medien mehr Mut zur Selbstreflexion haben.
Der Autor ist Lehrbeauftragter am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum.