Ich sitze vor meinem Haus im Kibbuz Dan und blicke in Richtung Libanon, dessen Grenze ich mit bloßem Auge sehen kann. Während die Sonne langsam untergeht und der Schabbat beginnt, höre ich sie wieder, die dröhnenden Geräusche israelischer Kampfflugzeuge am Himmel.
Heute Morgen gab es wieder Sirenen, gar nicht weit von hier, in Kirjat Schmona, Tel Chai und in den angrenzenden Kibbuzim. Während Menschen in Deutschland mit dem Klang des Weckers aufgewacht sind, wurden wir mal wieder von Sirenen geweckt. Nur wenige Sekunden blieben uns, um uns in einen der Schutzräume zu begeben. Der Grund: Terroristen in der Nähe versuchen immer wieder und nach wie vor, uns und den ganzen jüdischen Staat zu vernichten.
Während Kinder in Deutschland zur Schule gehen, halten wir im Schutzraum unsere Kinder in den Armen und versuchen sie zu beruhigen, obwohl wir selbst aufgeregt und nervös sind. Während in deutschen Häusern der Morgenkaffee in Ruhe genossen wird, rufen wir in Israel Verwandte und Freunde an, um sicherzustellen, dass alle wohlauf sind.
Heute Abend ist es im Kibbuz ruhig, aber nicht wegen des Schabbats. Es ist ruhig, weil die meisten meiner Nachbarn noch immer nicht in ihre Häuser zurückgekehrt sind, die sie vor anderthalb Jahren, nach dem Beginn der Angriffe der Hisbollah, verlassen mussten. Auch wenn die vereinbarte Waffenruhe die Illusion vermittelt, dass alles wieder zum Alltag zurückgekehrt ist: Von Normalität ist hier weit und breit nichts zu spüren.
Gedanken an die Schoa
Die Sirenen heute Morgen haben uns wieder gezeigt, dass der Terror längst nicht aufgehört hat. Natürlich haben wir uns schon ein bisschen daran gewöhnt. Die Abläufe – Sirene, Schutzraum, Warten, Entwarnung und wieder zurück zum Leben – sind mittlerweile fast schon mechanisch. Es fühlt sich an, als probte man immer wieder dasselbe Stück.
Aber während ich so draußen sitze und die israelischen Kampfflugzeuge über mir höre, die die Abendstille zunichtemachen, bin ich plötzlich sehr dankbar. Dankbar, dass dieser Staat eine starke Armee hat, die uns vor dem Terror schützt. Meine Gedanken gehen zu den Familienmitgliedern, die in der Schoa ermordet wurden. Ich denke plötzlich an jene, die unvorstellbares Leid in Konzentrationslagern und auf der Flucht ertragen mussten.
Hätte jemand damals unseren jüdischen Brüdern und Schwestern in Auschwitz gesagt, dass es eines Tages einen souveränen jüdischen Staat geben würde, mit einer starken und wehrhaften Armee, die nicht zulässt, dass Juden wehrlos ihren Feinden gegenüber stehen, dann hätte niemand daran geglaubt. Doch heute ist dieser Staat Wirklichkeit.
Leider gibt es auch in meiner alten Heimat, in Deutschland, jüdische Stimmen, die sich immer weiter von ihrer Vergangenheit und den Erfahrungen ihrer Familien entfernen. Es sind Menschen, die die Verbindung zu Israel verloren haben oder nie eine aufgebaut haben und die nun gegen Israel hetzen, Seite an Seite mit denen, die uns gerne vernichten möchten.
Ich kann sie nicht verstehen. Ich möchte ihnen zurufen: Israel ist doch ein Wunder, seht ihr das nicht? Es ist ein Land, das von Holocaustüberlebenden aus dem Nichts aufgebaut wurde, von einem traumatisierten Volk, das während des Zweiten Weltkriegs fast ausgelöscht wurde. Es ist ein immer noch junger Staat, der seit seiner Gründung um seine Existenz kämpfen muss.
Es ist nicht immer einfach
Und ja, die aktuelle Regierung in Israel ist vielleicht die schlechteste, die wir je hatten in den vergangenen 77 Jahren. Aber dass der Staat Israel existiert, dass er sich verteidigt, dass er zwar nicht perfekt, aber doch der beste jüdische Staat ist, den es je gab, das und das allein ist der Garant dafür, dass wir Juden überleben werden. Egal, ob hier oder in der Diaspora.
Ich lebe seit vielen Jahren in Israel. Ich weiß, was es bedeutet, von Terror und Vernichtungswahn bedroht zu werden. Ich weiß, wie schwer das Leben hier aufgrund dieser Bedrohungen und der wiederkehrenden Terroranschläge ist. Es ist wirklich nicht immer einfach.
Und doch bin ich erfüllt von tiefem Dank und Stolz, als jüdischer Mensch hier zu leben, Teil dieses Staates und Volkes zu sein, das so widerstandsfähig, so stark ist und das das Leben in seiner ganzen Tiefe feiert und für seine Freiheit kämpft.
Wenn die israelische Nation trotz der politischen Zerrissenheit und der tiefen Spaltung, die auf den 7. Oktober 2023 folgten, nicht zusammengebrochen, sondern widerstandsfähig, hoffnungsvoll und vereint geblieben ist, dann zeigt das, wie stark wir wirklich sind. Und wir werden kämpfen.
Wir werden leben, trotz des Terrors. Trotz des unbeschreiblichen Verlustes, des Schmerzes und all der Herausforderungen, mit denen wir es zu tun haben.
Der Autor ist freier Journalist, wuchs in Deutschland auf und lebt seit 2011 in Israel.