Oskar Lafontaine war ganz in seinem Element. Auf dem Gründungsparteitag der neuen Formation seiner Frau, dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), brannte der 80-Jährige wieder einmal ein rhetorisches Feuerwerk ab.
Lafontaine wetterte gegen die Sozialpolitik der Ampelkoalition, gegen die »faschistoide Cancel Culture« und gegen das Gendern (»Ich bin der Auffassung, dass eine linke Partei die Sprache des Volkes sprechen muss«), gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und überhaupt die deutsche Russland-Politik. Die Zuhörer im Saal hingen gebannt an seinen Lippen.
1995 war Lafontaine schon einmal das Kunststück gelungen, mit einer einzigen Ansprache einen ganzen Parteitag so in Verzückung zu setzen, dass der ihn tags darauf zum Parteivorsitzenden wählte. Damals ging es um eine andere Partei (die SPD). Und Lafontaine ging es um die Macht.
Heute geht es ihm eher um Deutungshoheit und natürlich darum, seine Frau Sahra Wagenknecht tatkräftig zu unterstützen. Es ist bereits die dritte politische Partei, in der Lafontaine an vorderster Front mitmischt. Der SPD, deren Kanzlerkandidat er 1990 war und die er von 1995 bis zu seinem abrupten Abgang 1999 führte, hat er schon lange den Rücken gekehrt, und auch aus der Linkspartei ist er ausgetreten. Am Samstag saß er beim BSW-Parteitag neben Sahra Wagenknecht in der ersten Reihe.
Eigentlich habe er ja nicht darum gebettelt, zum Schluss auf dem BSW-Parteitag zu reden, kokettierte Lafontaine. Es habe sich nur keiner gemeldet, und als dann jemand seinen Namen genannt habe, habe Sahra Wagenknecht gemeint, »Ja, das könntest du eigentlich machen«. Der Saarländer Mann stehe sowieso »unter Pantoffeln und macht das, was die Frau sagt«, behauptete Lafontaine.
Wagenknecht: »Rücksichtslose Kriegsführung der Regierung Netanjahu«
Wie Wagenknecht über den Nahostkonflikt und vor allem den aktuellen Krieg in Gaza denkt, ist zwar bekannt. Aber sie greift das Thema deutlich seltener auf als beispielsweise den Krieg in der Ukraine. Auf einer Antikriegsdemonstration im November hatte Wagenknecht gesagt: »Wir haben die Verantwortung, das Existenzrecht Israels ohne Wenn und Aber zu verteidigen«, aber gleichzeitig die angeblich »rücksichtslose Kriegsführung der Regierung Netanjahu« beklagt. Die »furchtbaren Massaker der islamistischen Hamas« seien genauso schockierend wie Israels »Bombardements im Gazastreifen«. Gaza sei ein »Freiluftgefängnis«, hatte Wagenknecht bereits im Oktober gesagt.
Wer die Parteigründerin in den letzten Monaten beobachtete, merkte aber, dass der Nahe Osten und Israel nicht zu ihren Lieblingsthemen gehören. Schon zu Zeiten, als sie noch in der Linkspartei war, ließ Wagenknecht da lieber anderen den Vortritt.
Oskar Lafontaine hat da weniger Hemmungen. Am Internationalen Holocaust-Gedenktag machte er kurzerhand einen Schlenker von Auschwitz zum Krieg in Gaza. Wörtlich sagte er: »Wir erinnern uns an den Tag, an dem Auschwitz von der Roten Armee befreit wurde. Dieser Tag ist eine Verpflichtung. Natürlich für alle, die in Deutschland Politik machen, weil dieser Tag natürlich uns verpflichtet, angesichts des industriellen Tötens von sechs Millionen Juden alles zu tun, dass das niemals wieder passiert. Und immer auch für die Juden einzutreten, dass sie bei uns leben können wie jeder andere. Dass es keinen Antisemitismus gibt und natürlich auch für den Staat Israel einzutreten, für das Lebensrecht der Jüdinnen und Juden.«
Seiner Meinung verpflichte die Schoa die Deutschen aber auch, »für das Lebensrecht der Palästinenserinnen und Palästinenser« einzutreten, so Lafontaine weiter. Und schüttelte dann einen besonders problematischen Satz aus dem Ärmel: »Deshalb genügt unsere Bundesregierung dem moralischen Imperativ, der aus der Ermordung von sechs Millionen Juden folgt, nicht, weil diese Ermordung von sechs Millionen Juden nicht zuletzt zur Vertreibung der Palästinenser geführt hat, zur Gründung des Staates Israel. Und deshalb sind wir auch eben diesen Menschen verpflichtet.«
Lafontaine: »AfD steht wie keine andere Partei an der Seite Israels«
Der Holocaust als Auslöser für die Staatsgründung Israels und die Vertreibung der Palästinenser, die in bestimmten Kreisen auch als »Nakba« (Katastrophe) bekannt ist? Eine steile These, denn sie verkennt, dass nicht nur der Zionismus, sondern auch die Zusage auf eine jüdische »Heimstatt« bereits lange vor der NS-Zeit bestand. Und dass die Palästinenser den Staat Israel 1948 nicht anerkennen wollten, sondern die dortigen Juden mit Waffengewalt vertreiben wollten, erwähnte Lafontaine auch nicht.
Und wo er schon bei zweifelhaften Aussagen war, legte er gleich noch eine nach. »Wenn ich mir manches so anhöre, was zum Gaza-Konflikt gesagt wird, kann ich nur sagen: Es ist doch gleichgültig, welche Religion und welche Staatszugehörigkeit die sterbenden und leidenden Menschen haben. Wir sind verpflichtet, uns für alle einzusetzen und dafür einzutreten, dass Frieden im Gazastreifen herrscht.«
Frieden, das ist für ihn auch klar, ist dann, wenn Israel seine Angriffe auf die Hamas einstellt. Und nicht etwa, wenn die Hamas ihre Angriffe auf Israel beendet. Ähnlich wie Lafontaine reden auch andere Linkspopulisten in Europa, Jeremy Corbyn in Großbritannien und Jean-Luc Mélenchon in Frankreich beispielsweise. Israel ist in der Regel der Schuldige, alle anderen sind die Opfer.
In Berlin nutzte Lafontaine seine Abgrenzung von Israel auch zu einer Abgrenzung von der AfD. »An dieser Stelle, weil man uns immer wieder Affinität zur AfD andichten will, eine weitere Bemerkung: Die AfD steht wie keine andere Partei an der Seite Israels, auch jetzt in diesem Krieg gegen Gaza. Es gibt kein kritisches Wort gegenüber der israelischen Armee. Ich halte diese Position für völlig unhaltbar. Für mich ist das, was im Gazastreifen geschieht, ein Kriegsverbrechen, das wir anklagen müssen, ohne jede Einschränkung.«
Kräftiger Applaus
Um dann noch einen Bogen zu einem anderen Konflikt zu spannen und den seiner Ansicht nach Schuldigen zu benennen. »Natürlich verurteilen wir auch das Sterben der Ukraine. Wir kennen die Vorgeschichte. Wir wissen, dass die offizielle westliche Erzählung grundfalsch ist. Wir wissen, was der NATO-Generalsekretär eines Tages ausgeplaudert hat, dass dieser Krieg viel früher begann, 2014 und nicht erst 2022. Das wissen wir alles. Und auch hier gilt: Das Leben jedes Menschen, der bedroht ist, das soll uns anrühren, das Leben jedes Menschen, der leidet, das soll uns anrühren. Und so sollen wir auch unsere Politik formulieren.«
Was das zu bedeuten hat, führte er auch aus: keine Waffen mehr für die Ukraine und Solidarität mit Russland. Lafontaine: »Wenn man Schuld empfindet angesichts der Ermordung von sechs Millionen Juden, dann muss man doch auch Schuld empfinden angesichts der Ermordung von 27 Millionen Sowjetbürgern. Und so, wie es angesichts unserer Geschichte niemals vertretbar wäre, wieder Waffen zu liefern, mit denen Juden ermordet werden können, ist es genauso verwerflich, Waffen zu liefern, mit denen wieder Russen ermordet werden können. Wo sind wir eigentlich, dass das in Deutschland nicht eingesehen wird?«
Dem lang anhaltenden, rhythmischen Beifall nach zu urteilen, teilten die meisten der Anwesenden im Saal Lafontaines sehr spezielle Interpretation der Nachkriegs- und der Vorgeschichte des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Die fulminante Rede des »First Husband« im BSW wurde von den rund 400 anwesenden Mitgliedern der neuen Partei mit kräftigem Applaus bedacht.
Dass Lafontaine nicht nur Linke, sondern auch AfD-Wähler ansprechen möchte, gab er offen zu: »Natürlich macht uns Sorge, wie viel Zustimmung die AfD hat. Natürlich gibt es in der AfD Rechtsextreme und es gibt auch Nazis, die da herumlaufen. Dennoch plädiere ich dafür, dass wir uns mit der AfD in der Sache auseinandersetzen, weil ich nur dann den Erfolg sehe bei den Menschen, die wir ansprechen wollen«, sagte er. Die AfD, betonte Lafontaine, habe Positionen, die das BSW niemals akzeptieren könne – »in der Wirtschafts- und Sozialpolitik.«
Seine Ehefrau dürfte sich über seinen Auftritt gefreut haben. Lafontaine musste dafür noch nicht einmal den Saarländer Pantoffelhelden geben. Er musste nur aussprechen, was wohl auch Sahra Wagenknecht denkt.