Seit einigen Wochen greift Russland gezielt die ukrainische Energie-Infrastruktur an. Der Kreml setzt auf Kälte, Stromausfälle und die Verschlechterung der Versorgungslage, um den ukrainischen Widerstandswillen zu brechen.
Die Angriffe finden in einer Zeit statt, da sich der Holodomor zum 90. Mal jährt. Die verheerende, durch die stalinistische Zwangskollektivierungspolitik verursachte Hungerkatastrophe 1932/1933 forderte in der Ukraine mindestens vier Millionen Opfer. Putins Krieg gilt in der Ukraine als Vernichtungskrieg und als eine Fortsetzung des Holodomor.
völkermord In der Ukraine wird der Holodomor als Völkermord am ukrainischen Volk wahrgenommen. Obschon die grausamen Verbrechen des stalinistischen Regimes offenkundig sind, gibt es unter Historikern weiterhin keinen Konsens über die Völkermord-These.
Trotzdem wurde der Holodomor inzwischen von mehreren, vor allem westlichen Staaten als Völkermord anerkannt. Israel distanziert sich hingegen von der Völkermord-These, und Moskau lehnt diese grundsätzlich als Verleumdung und Geschichtsfälschung ab.
Und Deutschland? Das Land, das die Aufarbeitung des Holocaust und weiterer NS-Verbrechen als Staatsräson betrachtet? Bereits im Falle des erst 2016 offiziell anerkannten Armenier-Genozids hat sich Berlin viel Zeit gelassen, da man die ohnehin komplizierten Beziehungen mit der Türkei nicht weiter belasten wollte.
befindlichkeiten Im Falle des Holodomor war die Lage noch komplizierter: Erstens ist die Völkermord-These kontrovers; zweitens nahm man Rücksicht auf russische Befindlichkeiten.
So wie Anerkennung des Armenier-Genozids in erster Linie eine politische Entscheidung war, ist die aktuelle deutsche Diskussion über den Holodomor primär politisch und wird vom dramatischen Krieg in der Ukraine geprägt. In der Presse wird über den Holodomor geschrieben, der Bundestag nimmt sich des Themas an. Der Holodomor wird zu einem Teil der deutschen Erinnerungskultur werden.
Der Autor ist Historiker in Düsseldorf.