Während Eden Golan mit ihrem Lied »Hurricane« beim diesjährigen ESC von den Jurys lediglich 53 Punkte erhalten hatte, war das Erstaunen, die Erleichterung und auch die Freude groß, dass die Zuschauer ihr durch ihr Votum zu 323 zusätzlichen Punkten verhalfen und sie damit zeitweise sogar auf dem ersten Platz stand.
Auch die Tatsache, dass die 20-jährige Sängerin aus Israel die vollen zwölf Punkte aus Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien und somit aus den ökonomisch und politisch wichtigsten sowie den bevölkerungsreichsten Ländern der EU bekam, ließ einen Moment vergessen, was sich rund um den diesjährigen ESC abgespielt hat.
Gewiss, das Zuschauerergebnis lässt sich nicht alleine damit erklären, dass Freunde Israels, die diesen Wettbewerb in der Vergangenheit vermutlich ignoriert haben, an diesem Abend ein Statement gegen den grassierenden Judenhass setzen wollten.
Moralischer und politischer Kompass
Vielmehr gibt das hohe Publikumsvotum für Eden Golan Grund zur Hoffnung, dass es tatsächlich eine schweigende Mehrheit in Europa gibt, die über einen funktionierenden moralischen und politischen Kompass verfügt und zumindest an diesem Abend deutlich machen wollte, dass sie den Hass und die antisemitischen Anfeindungen, denen Golan von Medien, Mitbewerbern und Zuschauern ausgesetzt war, nicht gewillt sind hinzunehmen.
Allerdings sollte man diesem Ergebnis auch nicht zu große Bedeutung beimessen und allzu euphorisch sein. Dafür gibt es aus zwei Gründen keinen Anlass. Denn angesichts der bedrohlichen Lage, in der sich die jüdische Gemeinschaft in Europa nicht erst seit dem 7. Oktober befindet, braucht es mehr als den Gratismut, vom heimischen Sofa aus mit ein paar Anrufen oder SMS seine Haltung zu dokumentieren.
Gerade seit dem antisemitischen Massenmord der islamistischen Einsatzgruppen der Hamas ist es mehr denn je notwendig, dass diese schweigende Mehrheit, so es sie denn gibt, ihre Haltung endlich auch im Alltag ausdrückt und sich ohne Wenn und Aber an die Seite der jüdischen Gemeinschaft stellt.
Bequemlichkeit oder Konfliktscheuheit
Erst wenn sich Nicht-Juden nicht mehr wegducken und ihre Bequemlichkeit oder Konfliktscheuheit überwinden und widersprechen, wenn im Familien- oder Kollegenkreis antisemitische Ressentiments geäußert werden, wäre etwas gewonnen. Bisher sieht es aber nicht danach aus.
Und noch aus einem anderen Grund sollte die Telefonabstimmung von Samstagnacht nicht mit wirklicher Solidarität verwechselt werden: Denn es bleibt die niederschmetternde Erkenntnis, dass im Jahr 2024 in einer europäischen Stadt eine junge Frau von Tausenden Polizisten und Sicherheitskräften vor einem antisemitischen Mob geschützt werden muss, nur weil sie israelisch und jüdisch ist.
Erst wenn die Mehrheit der Menschen auf diesem Kontinent endlich aufhört, diesen Zustand zu akzeptieren und der furchtbaren Gewöhnung daran den Kampf ansagt, gäbe es Grund zur Hoffnung. Dafür braucht es aber deutlich mehr als ein paar Anrufe.
Der Autor ist Direktor des American Jewish Committee Berlin.