Er selbst stellte die Regel auf – und brach sie als Erster. »Nach dem Krieg« müsse jeder Antworten geben, was alles schiefgelaufen sei, so Benjamin Netanjahu. Drei Wochen (!) nach der größten Katastrophe in der Geschichte Israels wollte sich Premierminister Benjamin Netanjahu der Öffentlichkeit stellen und Fragen beantworten. Zumindest hatte er das angekündigt. Doch wer erwartete, dass der Verantwortliche im Land Verantwortung übernimmt, irrte sich.
Oder er kennt Netanjahu schlecht. Denn schuld sind immer die anderen. Dabei meinen Umfragen zufolge 80 Prozent der Israelis, dass der Premier sehr wohl verantwortlich sei für das Desaster vom 7. Oktober. Statt sein Amt zumindest in den dunkelsten Stunden mit Verantwortungsbewusstsein zu füllen, reihte er eine Plattitüde an die nächste und tat das, was er wirklich fühlt, um 1.10 Uhr nachts bei X kund: Armee und Geheimdienste trügen die Schuld, denn er sei ahnungslos gewesen.
Nicht die Opfer, nicht die Geiseln in Gaza bringen ihn um den Schlaf, sondern die Sorge um sein politisches Überleben. Niemand dürfe ihm derzeit das Vertrauen entziehen, verlangte er, denn »Israel ist im Krieg«. Und schreibt auf seiner Tastatur in sicherer Entfernung von der Front der Armeeführung und auch den Soldaten, die ihr Leben riskieren, die Moral kaputt. Sogar einer seiner Vertrauten, Ex-Mossad-Chef Yossi Cohen, entrüstete sich: »Verantwortung beginnt nicht mittendrin. Sie beginnt, wenn man das Amt übernimmt.«
Erst nach empörten Rufen aus seinem Kriegskabinett und der Opposition löschte Netanjahu den Tweet und ersetzte ihn durch eine Entschuldigung. »Ich lag falsch…« Es ist nicht das Einzige, wobei sich Netanjahu, der nach eigenen Aussagen Israel weiter in die Zukunft führen will, verkalkuliert. Das Vertrauen der Bevölkerung in seine Koalition aus Likud, rechtsextremen und ultraorthodoxen Parteien liegt derzeit bei 14 Prozent. Eine Schlussfolgerung braucht es nicht, die Zahlen sprechen für sich.
Sabine Brandes ist Israel-Korrespondentin der Jüdischen Allgemeinen.