Meinung

Schluss mit dem Lamentieren - es ist Zeit zu handeln

Benjamin Netanjahu Foto: picture alliance/dpa

Die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs sind ein Schlag in die Magengrube der Betroffenen. Benjamin Netanjahus und Yoav Gallants Aktionsradius wird fortan arg eingeschränkt sein; Reisen in viele Ländern dürften ihnen unmöglich sein.

Sie sind aber auch ein weiterer schwerer Schlag für den guten Ruf des Staates Israel. Denn egal, wie man zur Motivation des Chefanklägers Karim Ahmad Khan oder zum Haager Strafgericht als Institution steht, egal, wie man sich zu dessen (Nicht-) Zuständigkeit verhält, egal, ob man Khan Voreingenommenheit oder gar Antisemitismus unterstellen kann, und egal, ob sich die den Richtern vorgelegten Beweise (kaum einer kennt sie bislang) als stichhaltig erweisen oder nicht: Der 21. November 2024 wird als ein wichtiges Datum in die israelische Geschichte eingehen.

Erstmals hat ein internationales Gericht gegen den Regierungschef eines demokratischen Rechtsstaates Haftbefehl erlassen. Dass es ausgerechnet den Regierungschef des kleinen jüdischen Staates traf, mag man für Zufall halten oder nicht. Man mag sich, wie Netanjahu das tut, gar in einer Reihe wähnen mit dem französischen Offizier Alfred Dreyfus. Auch wenn das in den Ohren der allermeisten Menschen maßlos übertrieben scheint.

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Nur eines sollte man nicht: das Verfahren als Lappalie abtun. Die Haftbefehle sind ein Etappensieg für Karim Khan und für die Vereinten Nationen. Und sie sind eine schwere Niederlage nicht nur für Netanjahu persönlich, sondern für den Staat Israel.

Es geht künftig nicht mehr nur darum, ob die horrenden Verbrechen, die Netanjahu und Gallant zur Last gelegt wurden, tatsächlich von ihnen begangen wurden, ob sie also schuldig sind im Sinne einer (noch gar nicht erhobenen) Anklage. Diese Frage wäre nur in einem fairen Gerichtsverfahren zu klären. In der aufgeladenen Situation ist ein solches momentan schlicht unmöglich.

Denn dass ausgerechnet das umstrittene Strafgericht der Vereinten Nationen, dessen Zuständigkeit für den Gaza-Konflikt nicht nur Israel, sondern viele andere westliche Länder energisch bestreiten, einen fairen Prozess führen könnte, ist mehr als zweifelhaft. Ein Schuldspruch, der auf Grundlage tendenziöser Berichte der Vereinten Nationen, auf Aussagen von UNRWA-Mitarbeitern und auf den fragwürdigen Zahlen des Hamas-Gesundheitsministeriums fußt, wäre wohl wahrscheinlich. Weder die UNO - Francesca Albanese und viele andere beweisen es jeden Tag - noch die bislang herrschenden Autoritäten in Gaza sind neutrale Instanzen. Viele ihrer Repräsentanten hassen Israel und alles, wofür es steht.

Umgekehrt ist eines auch klar: Eine innerisraelische Untersuchung der Netanjahu, Gallant und dem Militär unterstellten Vergehen im Gaza-Krieg würde weder die Palästinenser zufriedenstellen noch würde sie auf Akzeptanz beim Rest der Welt stoßen. Denn die Jury, die Mehrheit der Regierungen und ganz sicher die übergroße Mehrheit der Menschen, hat ihr Urteil über Netanjahu und Co längst gefällt; sie plädiert auf schuldig im Sinne der Anklage.

Schreien reicht nicht

Schuldig nicht nur im strafrechtlichen, sondern auch im weiteren Sinne. Nach allgemeiner Lesart ist - Stand heute - Israel und nicht etwa die Hamas, für den Krieg in Gaza, für das Leid der Palästinenser und für die schweren Zerstörungen verantwortlich. In diesem weit verbreiteten Narrativ war der 7. Oktober 2023 zwar ein schlimmes Ereignis, ein brutaler Überfall, ja, sogar ein Terrorangriff. Aber er wird als eines von vielen Ereignissen dargestellt, als einzelner Tag in einem Jahrzehnte andauernden blutigen Konflikt. Diese Sichtweise ist auch in westlichen Ländern weit verbreitet; sie wird von interessierter Seite, unter anderem von UNO-Vertretern, aber auch von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, massiv propagiert und durch die Verwendung von Begriffen wie »Genozid«,»Apartheid« und »Siedlerkolonialismus« unterfüttert.

Natürlich ist das eine Täter-Opfer-Umkehr. Doch was nützt Israel das Lamentieren? Die Sache mit den Haftbefehlen ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen, selbst wenn (was nicht wahrscheinlich ist) sie der IStGH im weiteren Verfahren zurückziehen und eine innerisraelische Untersuchung der Vorwürfe akzeptieren sollte.

Der Geist ist aus der Flasche. Ihn wieder dorthinein zu bringen, dürfte schwerfallen. Hinzu kommt: Der Regierungschef des jüdischen Staates ist nun ein Wanted Man, wird - so unsäglich das ist - auf dieselbe Stufe gestellt wie Potentaten und Massenmörder vom Schlage eines Wladimir Putin. Man bezichtigt ihn schwerer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit - obwohl niemand bislang diese Vorwürfe ernsthaft prüfen konnte. Etwas bleibt halt immer hängen, sagt der Volksmund.

Diese Lage mag man bedauern. Man mag dagegen ankämpfen, wie viele Freunde Israels es nun tun. Man mag laut schreien angesichts der Ungerechtigkeit, die die jüngste Entscheidung aus Den Haag darstellt. All das ist nachvollziehbar. Doch wenn es beim Bedauern und beim Schreien bleibt, ist nichts gewonnen. Es wäre wie Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen.

Wie soll Israel mit den Haftbefehlen umgehen? Eine einfache Antwort gibt es nicht, sonst wäre sie längst gegeben worden. Zunächst sollte es auch den Israelis gestattet sein, darüber zu diskutieren, selbst wenn das in der aufgeladenen Atmosphäre kein leichtes Unterfangen ist. Doch hat Israel die Kraft dafür, es hat entsprechende Verfahren. Israel hat eine demokratische Gesellschaft, die eigene Handlungen reflektieren und aufarbeiten kann.

Eine Untersuchungskommission mit einem breiten Mandat ist längst überfällig. Dass Netanjahus Regierung an ihr kein Interesse hat, kann nicht der Grund sein, sie nicht einzusetzen. Auch wenn der Krieg noch nicht vorbei ist, könnten jetzt schon die Parameter dieser Untersuchung definiert und die entsprechenden Personen, die sie leiten sollen, benannt werden. Es wäre klug, ausländische Rechtsexperten einzubeziehen, am besten auch arabische.

Dem laufenden Verfahren in Den Haag würde eine solche Untersuchung wahrscheinlich nicht das Wasser abgraben. Aber sie wäre immerhin ein Signal an den wohlwollenden Teil der Weltgemeinschaft, dass Israel es mit rechtsstaatlicher Aufarbeitung ernst meint.

Den Blick nach vorn richten

Zudem stünde es der Netanjahu-Regierung gut zu Gesicht, endlich einen mittel- und langfristigen Plan vorzulegen, wie es in Gaza und in der Region insgesamt nach dem (hoffentlich nahen) Ende des Krieges weitergehen soll.

Die Klage, es gebe auf palästinensischer Seite keinen Verhandlungspartner, ist zwar begründet. Sie kann aber keine Entschuldigung für Denkfaulheit sein und schon gar nicht für heimliche Planspiele der extremen Kräfte, die Gaza am liebsten wieder besiedeln wollen. Denn es ist offensichtlich: Nicht nur die Palästinenser verweigern sich Verhandlungen, auch Teile der Netanjahu-Regierung. Auch dort wird kaum über den nächsten Tag hinaus gedacht.

Oppositionsführer Yair Lapid hat jetzt gezeigt, dass es besser geht. Er hat einen Plan vorgelegt und Schritte skizziert, wie man zumindest den Versuch unternehmen könnte, die wichtigen Player in der Region zur Zusammenarbeit zu bewegen. Lapid hat den Blick nach vorn gerichtet. Gut so.

Denn bei vielen in der israelischen Regierung hat man das Gefühl, sie schauten nur noch zurück: zur Dreyfus-Affäre, zu den Schandtaten der Hamas und anderer Terrorgruppen, zu all den verpassten Chancen. In der Regierung dürften sich einige klammheimlich sogar darüber freuen, dass die Zwei-Staaten-Lösung gerade äußerst unrealistisch erscheint. Ja, auch die gibt es.

Doch wenn sich die westliche Welt und die Israelis noch in einem Punkt grundsätzlich einig sind, dann ist es der Wunsch nach Frieden. Nur über den Weg dahin gibt es gravierende Meinungsverschiedenheiten.

Um gleich wieder Wasser in den Wein zu schütten: Selbst bei Fortschritten im Friedensprozess gäbe es keine Garantie, dass Israels guter Ruf wiederhergestellt werden könnte. Antisemitismus und »Israel-Kritik« gab es auch nach den Oslo-Abkommen in den 90er Jahren. Die Abneigung vieler Menschen gegen Israel hat bekanntlich wenig mit der Lage im Nahen Osten zu tun und der Frage, ob dort gerade Frieden herrscht.

Dennoch sind Fortschritte beim Friedensprozess die absolute Grundvoraussetzung dafür, dass Israels Ruf repariert werden kann. Wer glaubt, die Aufrechterhaltung des Status Quo seit gut für das Standing Israels in der Welt, lügt sich in die Tasche. Ein Haftbefehl des IStGH mag Netanjahu innenpolitisch sogar nützen. Außenpolitisch tut er das ganz sicher nicht.

Man mag beklagen, dass Israels Ruf in der Welt schwer angekratzt ist. Man mag bedauern, dass das unfair ist. Ist es. Wer aber ständig nur Klagelieder anstimmt, nimmt Menschen nicht für sich ein.

Anstatt zu diskutieren, ob man zu Recht oder zu Unrecht angegriffen wird, sollte man sich besser anschicken, den eigenen Ruf wieder herzustellen. Dafür braucht es konstruktives Engagement. Und es braucht die Bereitschaft, eigene Fehler und Versäumnisse aufzuarbeiten, über den Tellerrand hinaus zu schauen und nicht nur mit Rhetorik im Krav-Maga-Stil für Aufsehen zu sorgen. Gute Hasbara bedeutet nicht, den Lautstärkeregler hochzuziehen. Recht haben und Recht bekommen sind zwei Paar Schuhe. Recht zu haben, aber als rechthaberisch wahrgenommen zu werden, bringt nichts.

Sanktionen gegen den IStGH lösen das Problem nicht

Und wie sollen Israels Freunde mit den Haftbefehlen umgehen? In Deutschland wurden schon erste Stimmen laut, die für einen Rückzug vom Internationalen Strafgerichtshof plädieren. Das wäre ein großer Fehler. Es würde nicht nur Israel kein bisschen weiterhelfen, sondern auch Deutschlands internationalem Ruf als westlicher Verbündeter einen Bärendienst erweisen.

Andere setzen ihre ganze Hoffnung auf Donald Trump und dessen Ankündigung, Sanktionen gegen den IStGH zu erlassen. Doch was würde das Israel bringen? Es würde die Gräben zwischen seinen Freunden und seinen Gegnern nur noch tiefer machen.

Besser wäre es, man würde sich auf eine Lösung des Konflikts konzentrieren. Gegenwärtig, das ist wahr, gibt niemand auch nur einen Pfifferling für den Friedensprozess. Niemand glaubt mehr an eine Zwei-Staaten-Lösung, an einen Frieden im Nahen Osten.

So, wie noch im Frühjahr 1989 noch kaum jemand an den baldigen Fall der Berliner Mauer geglaubt hatte. »Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen«, hat Theodor Herzl einmal gesagt. Daran sollten sich alle Beteiligten wieder erinnern.

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