Vielleicht ist das Problem des jüngsten Journalismusskandals in diesem Land, dass es Name und Adresse hat: Claas Relotius, 33, bis neulich noch Redakteur des »Spiegel«. Bekanntlich hat der Reporter Storys erfunden, Gesprächspartner erfunden, Zitate erfunden – und betrogen. Wenn all dies nur Fall und Absturz dieses einen Mannes wäre, das Problem wäre keines: Bemerkenswert viele Menschen haben seine Reportagen gar nicht gelesen. Dann würde dieser Fall nur zeigen, wie unbedeutend die Medienblase ist und wie leicht man sie bescheißen kann.
Man müsste nämlich nur das schreiben, was erwartet wird. Relotius erfand keine Sensationen, sondern reproduzierte Vorurteile. Er bediente damit die im Journalismus verbreitete Vorstellung, man könne schwierige Themen kurz, knapp und verdichtet erzählen: Ich, Reporter, weiß, wie es wirklich war, und was du, Leser, doch auch immer wusstest.
system Relotius hatte den syrischen Bürgerkrieg erzählt, als kämpfte ein kleiner Junge gegen den bösen Diktator. Relotius hatte der letzten Überlebenden der »Weißen Rose« Sätze in den Mund gelegt, wie sich viele die Verurteilung von Rechtspopulismus vorstellen, am besten aus dem Munde einer 99-jährigen Dame. Auch dpa prüft, ob Relotius Texte, die er für sie aus Israel schrieb, erfunden oder gefälscht hat. Für das »System Relotius« wäre der Nahostkonflikt ein dankbares Thema: einfach behaupten, was die Leute glauben.
Die Texte, die Relotius im »Spiegel« und anderen Blättern untergebracht hat, sind keine Belege für die Macht einer »Lügenpresse«, sondern sie zeigen, wie Propaganda über »Fake News« funktioniert: im Sammeln und notfalls im Erfinden von Details, die vor allem das eigene Vorurteil, die eigene Sicht auf die Welt stützen. Es ist die Hybris, selbst alles zu wissen, gemischt mit der Feigheit, den Leuten nach dem Munde zu schreiben.