Gäbe es in der deutschen Debatte über Rassismus, Diskriminierung, gesellschaftliche Veränderungen und den Umgang mit real existierender Vielfalt nur zwei Pole, fallen nach dem Verständnis einiger alle in genau nur zwei Kategorien: Menschen mit Migrationshintergrund einerseits und Menschen mit Nazihintergrund andererseits.
BEGRIFF Die beiden Schöpfer des Begriffs »Mensch mit Nazihintergrund« - die Künstlerin Moshtari Hilal und der Essayist und Aktivist Sinthujan Varatharajah - beschreiben damit alle in Deutschland lebende Personen, die keinen Migrationshintergrund haben. Dabei ist unerheblich, ob ihre Vorfahren tatsächlich Nazis waren. Es reicht vielmehr, »christliche« Verwandte in Nazideutschland gehabt zu haben, um so eine Person zu sein. Wichtig ist: Hilal und Varatharajah meinen das nicht etwa satirisch, sondern ganz im Ernst.
Ihr Begriff ist natürlich als Reaktion auf jenen der »Person mit Migrationshintergrund« gedacht. Mit dieser Vokabel reduziert die »Mehrheitsgesellschaft« Menschen oft auf ihre Herkunft. Unterschiedliche Herkünfte werden einfach in einen Topf geworfen. Hilal und Varatharajah drehen den Spieß einfach um und scheren nun ihrerseits alle »Biodeutschen« oder »Almans« über einen Kamm. Bildlich gesprochen ist das jener, mit dem Hitler einst seinen Scheitel zog.
Problematisch daran ist, dass Dinge gegenübergestellt werden, die nicht in einem Atemzug genannt werden sollten. Dabei ist der Begriff der »Menschen mit Nazihintergrund« auf den ersten Blick gar nicht so schlecht, denn er wirft ein Licht auf die bei vielen immer noch gepflegte Verdrängung der Nazivergangenheit. Und ja, es könnten ruhig mehr Leute in Deutschland wissen, dass etliche deutsche Unternehmen Millionen und Milliarden mit dem Leid jüdischer Unternehmer gemacht haben.
PROBLEME Aber sollte man gleich jede Deutsche und jeden Deutschen ohne Migrationshintergrund so bezeichnen? Das ist populistisch, unpräzise, pauschalisierend, antagonistisch - und es wird nicht helfen, den Weg hin zu einem inklusiven Deutschland zu erleichtern.
Der Begriff des Migrationshintergrunds war ursprünglich dazu gedacht, Personen zu beschreiben, deren Eltern oder Großeltern nicht mit deutschem Pass geboren wurden. Seit 2005 ist er offiziell eine statistische Größe.
Die Frage nach dem Migrationshintergrund dient dazu, Probleme bei der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Integration besser identifizieren zu können. Daran ist also erst einmal nichts auszusetzen, denn mangelnde Integration oder auch Diskriminierung durch die sogenannte Mehrheitsgesellschaft muss man ja erst beschreiben können, bevor man sie wirksam bekämpfen kann.
ZU PAUSCHAL Allerdings darf man sich schon die Frage stellen, ob und inwieweit der Begriff »Person mit Migrationshintergrund« immer gutmeinend verwendet wird. Hat irgendjemand die Menschen gefragt, ob sie so bezeichnet werden möchten?
Wenn ich als Mensch mit Migrationshintergrund kein Problem mit dem Begriff habe, zum Beispiel, weil ich auf der Straße optisch oder hinsichtlich meiner Sprache nicht so eingestuft werde und mir so kein Nachteil entsteht, sollte meine persönliche Erfahrung als »migrationshintergründiger« Leonard dann automatisch auf alle angewandt werden? Ist der Begriff nicht viel zu pauschalisierend? Kann er wirklich die mannigfaltigen Vorgeschichten von zirka 26 Millionen Menschen in Deutschland beschreiben?
Diese Fragen muss man ernsthaft diskutieren. Menschen mit Migrationshintergrund dürfen nicht zu Objekten gesellschaftlicher Debatten werden. Gerade, wenn es um Rassismus und Diskriminierung geht, müssen sie Definitionshoheit haben. Es ist aber fraglich, ob man diese damit erlangt, dass man alle anderen abschätzig als »Menschen mit Nazihintergrund« tituliert.
Gesellschaftlicher Fortschritt wird durch Austausch erreicht – aber nicht einem, der auf Grundschulhofniveau geführt wird. Denn damit erreicht man nur die Polarisierung der Debatte. Und das ist das Gegenteil des eigentlichen Ziels: der respektvolle, gleichberechtigte Umgang aller Teile der Gesellschaft miteinander.