Weil ich ein großes Paket schleppte, wurde ich auf dem Weg zur Post neulich von einer Frau angesprochen, was denn da drin sei. »Mein Antrag zur britischen Staatsbürgerschaft«, sagte ich ihr. Sie erwiderte: »Brexit wäre unter Labour nicht passiert.« Ich widersprach, verwies auf den fehlenden EU-Enthusiasmus von Labour-Chef Jeremy Corbyn und erwähnte auch das Antisemitismusproblem der Partei. Was ich mir dann anhören musste, war ein Kurzvortrag über ultrakonservative Verschwörungen und dass Israel keinerlei Existenzrecht habe.
Will ich wirklich Staatsbürger eines Landes werden, in dem derartige Meinungen zunehmend salonfähig werden, fragte ich mich. Seit 1991 lebe ich in London. Ein englischer Freund, auch er Jude, riet mir nach dem Brexit-Votum, ich solle die britische Staatsbürgerschaft beantragen. »Unsere Geschichte lehrt, dass unsere Sicherheit und Zukunft stets ungewiss sind.«
REFERENDUM Viele Menschen, nicht nur Juden, haben in den letzten 18 Monaten den britischen Pass beantragt. Hätten sie es vor dem Referendum getan, wäre es mit ihren Stimmen vielleicht nicht zum Brexit gekommen. Aber wir vertrauten darauf, dass die ausländerfeindlichen und antisemitischen Fackeln im Lichte der EU nicht mehr aufleuchten würden. Wir lagen falsch.
Brexit gehört zur Politik der Abgrenzung, die unsere Gegenwart zunehmend definiert. Auch die EU selbst ist nach außen ein Block, und einzelne Mitgliedstaaten verschreiben sich zunehmend nationalistischen Parteien.
Doch ich lebe ja in London: Ein Drittel der Menschen in der Achtmillionenstadt wurde im Ausland geboren, über die Hälfte aller Londoner hat einen Migrationshintergrund. Hier herrschen gegenseitige Anerkennung und Toleranz, und es gibt gleiche Chancen. Da überrascht es nicht, dass in dieser Megapolis auch die größte jüdische Community in Europa lebt. Mit meiner baldigen zweiten Staatsbürgerschaft werde ich immer Mitglied dieser global orientierten Stadt bleiben dürfen.
Der Autor ist Journalist in London.