Wie religiös sind die Menschen in Deutschland? Mit dieser Frage beschäftigte sich die Konrad-Adenauer-Stiftung in ihrer Umfrage »Was eint die Einwanderungsgesellschaft?«. Heraus kam, dass Deutsche »ohne Wurzeln im Ausland« weniger religiöse Bindungen haben, sich öfter als »nicht-religiös« bezeichnen und weniger oft beten.
Im Umkehrschluss sagt die Studie, dass Menschen mit polnischem, russischem und türkischem Hintergrund in der Mehrheit ihre Werte mit ihrer Religion verbinden und Themen wie gleichgeschlechtlicher Ehe, Abtreibung und »Mischehen« kritisch gegenüberstehen.
ORIENTIERUNG Doch was bedeutet dies wirklich, was steht zwischen den Zeilen? Mangelt es vielleicht an einer Willkommenskultur in Deutschland und einer gemeinsamen Basis der Zusammengehörigkeit, da letztlich die Mehrheitsgesellschaft die zu lebenden Werte und Orientierung vorgibt?
Wie kommt es, dass wir uns bei der Kommunikation so einschneidender Beschränkungen unserer Grundrechte an christlichen Festen orientieren?
Dass vor allem türkischstämmige Befragte zu 82 Prozent angeben, »etwas« oder »sehr« religiös zu sein, stimmt nachdenklich. Die erste »Gastarbeiter-Zuwanderung« in den 60er-Jahren war geprägt von einer Trennung von Staat und Religion. Zeitgleich wurden in Deutschland Ehen von Katholiken und Protestanten noch als »Mischehen« geschmäht.
SÄKULARISIERUNG Die politische Landschaft hat sich seitdem gewandelt. In Deutschland nimmt in der Tat die Säkularisierung weiter Bevölkerungsteile zu, während dagegen in der Türkei Religion eine immer bedeutendere Rolle spielt. Dieses Phänomen spiegelt sich in der Zuwanderer-Community wider.
Auch die betrachteten Gruppen mit polnischen und russischen Wurzeln kommen aus Gesellschaften, die einen großen politischen Wandel erlebt haben: aus kommunistischen Tagen, in denen Religion staatlich geächtet war, über Zeiten des Umbruchs hin zu nun wieder konservativen und in Teilen undemokratischen Regierungen.
Sind wir als Gesellschaft befreit von religiösen Zwängen und Traditionen? Wohl kaum.
Die nationalistisch ausgerichteten Regierungen integrieren jetzt die Kirche und die religiösen Werte, um einen konservativen Wertekanon zu rechtfertigen. Sind wir in Deutschland darüber erhaben und als Gesellschaft befreit von religiösen Zwängen und Traditionen? Wohl kaum.
FESTE Zu Weihnachten gab es den »Lockdown light«, und spätestens zu Ostern soll der harte Lockdown fallen. Wie kommt es, dass wir uns bei der Kommunikation so einschneidender Beschränkungen unserer Grundrechte an christlichen Festen orientieren?
Bei aller Säkularisierung bleibt die Politik den alten Werten und Traditionen treu und setzt damit klare Zeichen für die Zuwanderungs-Community. Deutschland hat noch einen langen Weg vor sich – hin zur Einwanderungsgesellschaft mit einer gelebten Willkommenskultur, die uns eint.
Der Autor ist freier Berater und Unternehmer in Berlin und Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.