Ute Cohen

Linker Hass und der Nobelpreis

»Wenn die Tassen fliegen, hat das freie Individuum versagt«: Ute Cohen über ihr Buch »Der Geschmack der Freiheit« Foto: privat

Ute Cohen

Linker Hass und der Nobelpreis

Es ist eine Pflicht der Kulturwissenschaft, zu prüfen, was von der Kunst noch bleibt. Kein Künstler bleibt davon verschont – weder Handke noch Polanski noch Ernaux

von Ute Cohen  20.10.2022 06:27 Uhr

Hoch schlugen zunächst die Wogen der Begeisterung, als am 6. Oktober bekannt gegeben wurde, dass die französische Schriftstellerin Annie Ernaux in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur erhält. Einmütig habe sich das schwedische Komitee für die Grande Dame der Autofiktion entschieden. Literaturkritiker schwangen Lobeshymnen, dem linken Politiker und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon flossen Tränen über die Wangen, in den sozialen Medien wurden unablässig Bücher der frisch gekürten Preisträgerin abgelichtet.

Die israelische Zeitung »Jerusalem Post« aber und die französische »Tribune Juive« schwenkten die Kamera über das literarische Werk hinaus und nahmen Ernaux als politisch engagierte Intellektuelle in den Blick. Ein ganz anderes Bild zeigt sich da von der Schriftstellerin, die einen bespielhaften Bildungsaufstieg vorzuweisen hat und stets für Gerechtigkeit und Chancengleichheit eingetreten ist, zweifellos auf der Seite des Guten zu stehen scheint.

bds-boykottaufruf Das Gute aber ist nichts ohne sein Gegenteil, und das verortet Ernaux in Israel. Als 2019 der Eurovision Song Contest in Tel Aviv stattfand, unterzeichnete Ernaux einen BDS-Boykottaufruf, in dem sogar das französische Fernsehen dazu aufgefordert wurde, die Ausstrahlung abzulehnen.

Man mag das für eine Petitesse halten, wenn da nicht zahlreiche weitere Bekundungen gegen Israel wären. Mit harschen Worten wertete Ernaux die israelisch-französische Kultursaison im Jahre 2018 ab. Von »Weißwaschen« war da die Rede und von der »moralischen Verpflichtung« eines jeden Menschen mit Gewissen, »die Normalisierung zum Staat Israel abzulehnen«. Israel brandmarkte sie als »Apartheidstaat« und Emmanuel Macron als »erschaffen von den Mächten des Geldes«.

Dass angesichts dessen die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« Kritik an Ernaux als Randphänomen von Juden und der Boulevardpresse ausmacht, ist degoutant: »In Deutschland kocht dieses Thema in jüdischen Zeitungen hoch, bei ›Bild‹ auch, in Frankreich weniger. Man ist nicht so empfindlich.« Die FAZ gießt damit Öl ins Feuer einer israelfeindlichen Islamlinken.

pamphlet Während Journalisten wie Jean Birnbaum in »Le Monde« den zunehmenden Rassismus antirassistischer Bewegungen beanstanden, wird in vielen deutschen Medien Ernaux’ Rückhalt für Houria Bouteldja, die Verfasserin des unsäglichen Pamphlets Die Weißen, die Juden und wir, als nicht der Rede wert abgetan.

Bouteldja aber nimmt den Dschihadisten Mohamed Merah, der 2012 drei Kinder und einen Lehrer vor einer jüdischen Schule in Toulouse getötet hat, im Namen des Postkolonialismus in Schutz und posiert neben einem Plakat, auf dem Zionisten in den Gulag geschickt werden sollen. Eine Rassistin und Israelhasserin, unterstützt von einer Nobelpreisträgerin?

Kritik bedeutet in Deutschland und Frankreich keineswegs ein Todesurteil. Auch nicht in Israel, dem einzigen Land, das Annie Ernaux vehement verdammt.

Werden diese Niederträchtigkeiten doch einmal aufs Tapet gebracht, erschallen sogleich Warnrufe. Barbara Vinken, Professorin für Literaturwissenschaft und Romanistik in München, warnt im Deutschlandfunk davor, »aus einer politischen Äußerung ein Todesurteil zu machen«.

DEMOKRATIE Kritik bedeutet in Deutschland und Frankreich keineswegs ein Todesurteil. Auch nicht in Israel, dem einzigen Land, das Annie Ernaux vehement verdammt. Wir leben in Demokratien, und ausgezeichnet wurde Ernaux für ihr literarisches Werk und nicht ihre politische Meinung. Dies gilt es zu unterscheiden. Es sei denn, die Autorin selbst macht keinen Unterschied zwischen sich, ihrem Werk und ihrer Rolle als öffentlicher Intellektueller.

Vor fünf Jahren erklärte Annie Ernaux in »Le Monde«: »Ich interessiere mich für das, was in mir wie in jedem anderen Menschen an Gesellschaftlichem abgelegt worden sein könnte.« Das genau gilt es nun herauszufinden. Ist es der Israelhass einer Houria Bouteldja, sind es die Irrnisse antisemitischer Islamogauchisten?

Es ist eine Pflicht der Kulturwissenschaft, in diesem sozialen Sediment zu schürfen und zu prüfen, was von der Kunst noch bleibt. Kein Künstler bleibt davon verschont – weder Handke noch Polanski noch Ernaux.

Die Autorin ist Journalistin in Berlin und Paris.

Meinung

Am Beispiel Israels den eigenen Weg finden

In Deutschland sollte ein Ableger der Gedenkstätte Yad Vashem entstehen, findet Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung

von Felix Klein  22.04.2025

Kommentar

Bezalel Smotrich, die Geiseln in Gaza und der moralische Teufelskreis

Zum Gesellschaftsvertrag in Israel gehört es, dass kein Soldat und kein Opfer von Terror zurückgelassen wird. Niemand! Niemals! Koste es, was es wolle. Was es bedeutet, dies nun in Frage zu stellen

von Daniel Neumann  22.04.2025

Essay

Der verklärte Blick der Deutschen auf Israel

Hierzulande blenden viele Israels Vielfalt und seine Probleme gezielt aus. Das zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um die Rede Omri Boehms in Buchenwald

von Zeev Avrahami  21.04.2025

Meinung

Nur scheinbar ausgewogen

Die Berichte der Öffentlich-Rechtlichen über den Nahostkonflikt wie die von Sophie von der Tann sind oft einseitig und befördern ein falsches Bild von Israel

von Sarah Maria Sander  21.04.2025

Kommentar

Bis zuletzt wollte Mustafa A. aus Lahav Shapira einen Täter machen

Dem Täter tue es leid, dass sein Angriff »instrumentalisiert wird, um jüdischen Bürgern Angst einzuflößen«. Ein unverfrorener Satz

von Nils Kottmann  17.04.2025

Volker Beck

Den Kampf gegen Antisemitismus nicht vereinnahmen

US-Präsident Trump nimmt den Antisemitismus an der Harvard University zum Anlass für einen Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit und die Rechtsgleichheit für alle

von Volker Beck  16.04.2025

Lasse Schauder

Wer den Begriff »Islamismus« bannen will, ist politisch unmündig

Die Berliner Jusos haben beschlossen, aus Gründen der Sprachsensibilität künftig nicht mehr von »Islamismus« sprechen zu wollen. Das ist ein fatales Signal an Betroffene extremistischer Gewalt

von Lasse Schauder  16.04.2025

Eren Güvercin

Wo sind die Gelehrten, die der Fatwa gegen Israel widersprechen?

Ein ranghoher Geistlicher erklärt den Kampf gegen Israel zur Pflicht eines jeden Muslims. Kritik an diesem offenen Terroraufruf sucht man bei deutschen Islamverbänden vergeblich

von Eren Güvercin  16.04.2025

Essay

Warum ich stolz auf Israel bin

Das Land ist trotz der Massaker vom 7. Oktober 2023 nicht zusammengebrochen, sondern widerstandsfähig, hoffnungsvoll und vereint geblieben

von Alon David  15.04.2025 Aktualisiert