Birgit Johannsmeier

Lettland und die Frage nach Täter oder Opfer

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Birgit Johannsmeier

Lettland und die Frage nach Täter oder Opfer

Auf offizielle Gedenktage müssen tieferführende Auseinandersetzungen folgen

von Birgit Johannsmeier  01.07.2021 08:49 Uhr

»Wie könnt ihr es wagen, uns als Täter zu beschimpfen? Wir sind Opfer – einer 50-jährigen sowjetischen Besatzung.» Mit diesen Worten empörte sich 1991 die lettische Öffentlichkeit. Kaum hatte die ehemalige Sowjetrepublik vor 30 Jahren ihre Unabhängigkeit erkämpft, warfen ausgerechnet deutsche Medien die Frage nach einer Mittäterschaft der Letten am Holocaust auf.

Tatsächlich wurden bereits am 2. Juli 1941, kurz nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, erste Pogrome verübt. Das Thema Kollaboration blieb nach Kriegsende jedoch nahezu unangetastet.

MUT Während sich in postsowjetischer Zeit die lettische Öffentlichkeit gegen eine Untersuchung wehrte, bewies Staatspräsident Guntis Ulmanis Mut. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines möglichen EU-Beitritts rief er 1999 eine internationale Historikerkommission ins Leben. Sie sollte eine mögliche Mittäterschaft der Letten an der Schoa unter die Lupe nehmen.

Gleichzeitig gelang dem jüdischen Historiker Margers Vestermanis, selbst Überlebender des Rigaer Ghettos, ein geschickter Schachzug: Er gab den lokalen Rettern ein Gesicht. Allen voran wurde der Lette Zana Lipke mit einer Gedenkstätte gewürdigt. Er versteckte, wie rund 500 weitere Letten, Juden auf Dachböden, in Kellern und Heuschobern vor den mordenden Nazis.

Die kollektive Erinnerung an die Retter ist präsenter als die an die Täter.

Parallel zog 2005 die Historikerkommission Bilanz. Einigen Tausend Letten konnte eine Mittäterschaft nachgewiesen werden: Mehr als die Hälfte aller 90.000 Judenmorde im Land ging auf das Konto lettischer Helfer.

ERINNERUNGSKULTUR Die Erinnerung an die Retter ist da präsenter. So wurden die ersten vier Stolpersteine in Riga verlegt, und zu einem Publikumsmagneten wurde auch das Open-Air-«Ghetto Museum» des Rabbiners Menachem Barkhan, das einen Eindruck vom früheren Ghetto vermittelt. Barkhan lud vor Corona auch regelmäßig am 4. Juli, dem offiziellen lettischen Holocaust-Gedenktag, zum «Marsch der Lebenden» ein, um an jene Nacht zu erinnern, in der die Nazis Rigas Synagogen niederbrannten.

All das sind ermutigende Beispiele einer Erinnerungskultur, die ein Land zeigen, das die Beteiligung am Holocaust nicht verleugnet. Nun müssen tieferführende Auseinandersetzungen folgen. So könnte es gelingen, dass die Schoa in Lettland auch Teil des kollektiven Gedächtnisses wird.

Die Autorin ist Baltikum-Korrespondentin in Berlin und Riga.

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