Als Jeremia die Zerstörung des Tempels beklagt, ruft er: »Eijcha?« - »Wie?« Es war ein Schrei des Schmerzes, der heute in den Herzen von Juden auf der ganzen Welt widerhallt. Diese Worte, die einst verwendet wurden, um den Fall Jerusalems zu beklagen, klingen heute bei all jenen nach, die den Verlust unschuldiger Menschenleben und das durch die von der Hamas verübten Gräueltaten erschütterte Gefühl der Sicherheit beklagen.
An diesem Tischa beAw mussten wir nicht nur an die Zerstörung des Tempels denken, sondern auch an die zahllosen Tragödien, die dem jüdischen Volk im Laufe der Geschichte widerfahren sind - von der spanischen Inquisition bis zum Holocaust.
Die Zeit nach dem 7. Oktober
Seit dem 7. Oktober haben wir viele »erste Tage danach« erlebt: den ersten Tag an unserem Arbeitsplatz nach dem 7. Oktober, unser erstes Pessach, an dem wir die Freiheit feierten, während unsere Brüder und Schwestern in der Gefangenschaft der Hamas waren. Aber Tischa beAw war vielleicht der ergreifendste Tag von allen.
Es ist es die Art und Weise, wie wir auf Tragödien und Kämpfe reagieren, auf die es wirklich ankommt.
Die Verluste an Menschenleben, die Geiselnahmen und die Vertreibung zahlloser Israelis sowohl im Norden als auch im Süden erinnern uns an die tiefe Tragödie vor so vielen Jahren. So wie die Zerstörung des Ersten und Zweiten Tempels den Beginn des Exils, des Leidens und des Verlusts seiner Souveränität markierte, so haben die Ereignisse des 7. Oktobers das Gefühl der Sicherheit und Einheit des jüdischen Volkes im Kern getroffen.
Wir werden daran erinnert, dass wir schon immer Feinde hatten und leider wohl immer haben werden. Aber es ist nicht die Anwesenheit dieser Feinde, die uns definiert. Es ist es die Art und Weise, wie wir auf Tragödien und Kämpfe reagieren, auf die es wirklich ankommt. Daher ist Tischa beAw ein Tag der kollektiven Trauer, ein Tag, an dem wir daran erinnert werden, dass unsere Geschichte von viel Leid, aber auch von ebenso viel Widerstandskraft geprägt ist.
Die Juden tragen füreinander Verantwortung
Wir müssen das innere Versagen erkennen, das zu der Tragödie geführt hat, einschließlich der Polarisierung der jüdischen Welt, insbesondere in Israel in den Monaten vor dem 7. Oktober 2023.
»Kol Yisrael Arevim Zeh Bazeh« - ganz Israel ist füreinander verantwortlich, lehrt der Talmud. Dieser Satz erinnert uns daran, dass Juden auf der ganzen Welt füreinander Verantwortung tragen. Es ist ein ernüchternder Gedanke, aber es ist auch ein Aufruf zum Handeln. Unser Gefühl der Einheit und der gegenseitigen Verantwortung muss die treibende Kraft sein, die dafür sorgt, dass sich eine solche Tragödie nie wieder ereignet.
Tischa beAw hat eine aktuelle Komponente
Ende Mai 2024 besuchte ich Kfar Aza und das Gelände des Nova-Musikfestivals, Orte, die von den Tragödien des 7. Oktober gezeichnet sind. Inmitten der unheimlichen Stille, die gelegentlich durch den nur wenige Kilometer entfernten Krieg in Gaza unterbrochen wurde, ging ich durch Kfar Aza, wo die Überbleibsel dieses schrecklichen Tages noch immer sichtbar sind. Ich sah Schulen und Häuser, die mit Einschusslöchern übersät waren und die Narben der Schlacht trugen.
Das Nachdenken über Tischa beAw allein reicht nicht - wir müssen handeln!
Es gab kein klares Muster: Einige Häuser waren noch relativ intakt, obwohl die Familien, die in ihnen gelebt hatten, brutal ermordet worden waren. Andere waren zerstört, aber ihre Bewohner hatten überlebt. Der Anblick, der sich mir in Kfar Aza bot, war eine eindringliche Erinnerung daran, dass Tischa beAw nicht nur ein Gedenktag ist, sondern auch eine aktuelle Komponente hat, in der wir weiterleben und weiter leiden.
Eines ist aber klar: Das Nachdenken über Tischa beAw allein reicht nicht - wir müssen handeln! Das bedeutet, dass wir die Freilassung der Geiseln fordern, die immer noch in Gaza festgehalten werden. Es bedeutet auch, dass wir uns verpflichten, niemals einen zweiten 7. Oktober zuzulassen.
Stärke liegt in der Einheit
Wenn wir in die Zukunft blicken, müssen wir eine Lektion lernen: Wir dürfen nie wieder so gespalten sein, dass diejenigen, die uns vernichten wollen, ein so leichtes Spiel haben. Unsere Stärke liegt in unserer Einheit. Wir müssen sie bewahren, um unsere Sicherheit und Widerstandsfähigkeit gegenüber unseren Feinden zu gewährleisten.
Doch auch in unserer Trauer müssen wir an der Hoffnung festhalten. Eines Tages wird sich Tischa beAw in ein Fest der Freude verwandeln, an dem die Rückkehr des Tempels gefeiert wird. Diese Hoffnung spiegelt unsere Sehnsucht wider, dass die Geiseln gesund zurückkehren mögen und unser Volk in Stärke und Glauben vereint sein werde.
Bis dahin muss unsere Trauer uns zum Handeln, zum Schutz und zum Wiederaufbau anspornen.
Der Autor ist geschäftsführender Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses (WJC).