In den vergangenen Wochen sorgte die deutsche Kapitänin Carola Rackete für internationales Aufsehen, weil sie Flüchtlinge nach Lampedusa brachte und dafür geltendes Recht ignorierte. Ob diese Aktion nun gerechtfertigt war oder nicht, soll an dieser Stelle nicht das Thema sein.
Thema soll hier die Aussage der Sea‐Watch-Kapitänin Rackete sein, dass in den libyschen Flüchtlingslagern »KZ-ähnliche Verhältnisse« herrschen. Das sagte sie, ohne dafür öffentlichen Widerspruch zu ernten. Ohne Frage sind die Bedingungen vor Ort menschenunwürdig, was diesen Vergleich aber nicht weniger suspekt macht.
Ob Racketes Rettungsaktion gerechtfertigt war oder nicht, soll an dieser Stelle nicht das Thema sein.
In Deutschland denkt man bei Konzentrationslagern an Deportationen, an Leichenberge und an die systematische Vernichtung eines Volkes. Nichts davon geschieht in Libyen. Die scheinbare Einschränkung, dass es »ähnliche« Zustände seien, ist dabei in Wirklichkeit keine. Wie soll man sich so einen Ort überhaupt vorstellen? Gibt es dort nur ein bisschen systematische Ermordung und nur halbtags Zwangsarbeit?
AGENDA Man kann Leid nicht aufrechnen, weswegen es Menschen in den libyschen Lagern nicht besser gehen würde, wenn ihnen jemand die Unterschiede zum Leben in einem Konzentrationslager erläutern würde. Man kann aber sehr wohl die Methoden vergleichen, die für dieses Leid verantwortlich sind. Wer die ignoriert und stattdessen eine moralische Überwältigungsrhetorik wählt, entscheidet sich dafür, die Erinnerung an den Holocaust für die eigene Agenda einzuspannen. Ganz unabhängig davon, wie berechtigt diese Agenda sein mag, ist das eine problematische Haltung.
Über Jahrzehnte hinweg war es Teil der deutschen Erinnerungskultur, diese Gleichmacherei abzulehnen. Zuerst kamen diese Versuche aus dem rechtsradikalen Eck, um die deutsche Schuld zu relativieren, bevor dann später Linksradikale in den Israelis die neuen Nazis erkannten und deutsche Bischöfe den Gazastreifen mit dem Warschauer Ghetto verwechselten. Für die islamistische Propaganda wiederum ist ohnehin jeden Tag Holocaust in Palästina, obwohl sich die dortige palästinensische Bevölkerung seit 1949 um viele Millionen erhöht hat.
Rackete hat einen fragwürdigen Vergleich gezogen. Auch ihre Unterstützer sind eifrig dabei, die Nazizeit zu zitieren.
Es ist also nicht ganz neu, von »KZ-ähnlichen Verhältnissen« zu sprechen. Neu ist hingegen, dass dieser Verweis zunehmend die moralische Rechtfertigung für das eigene Handeln liefern soll. Schließlich hat nicht nur Carola Rackete einen fragwürdigen Vergleich gezogen. Auch ihre Unterstützer sind eifrig dabei, die Nazizeit zu zitieren.
Rackete habe zwar gegen geltendes Recht verstoßen, sagen sie, schieben dann aber nach, dass es in der Nazizeit auch gegen geltendes Recht verstoßen hat, Juden zu verstecken. Das stimmt zweifellos. Was aber schon damals ausgereicht hätte, damit niemand Juden verstecken muss, wäre ein Rechtsstaat gewesen. Dieser wird jedoch durch eine Hypermoral, die geltendes Recht und die Urteile unabhängiger Gerichte nur dann akzeptiert, wenn sie der eigenen Sichtweise entsprechen, ausgehöhlt.
MASSSTAB Wenn außerdem der Verweis auf Konzentrationslager immer mehr zum bloßen Synonym für Menschenrechtsverletzungen wird, wird auch der Holocaust zu einem Verbrechen neben anderen. Wenn alles »KZ-ähnlich« ist, ist nichts »KZ-ähnlich«. Alles ist dann gleich schlimm oder nicht schlimm, während es außer dem individuellen Leid keinen Maßstab mehr gibt.
Es ist niemandem damit geholfen, wenn die deutschen Verbrechen in reine Horror-Vokabeln verwandelt werden, mit denen auf heutige Untaten hingewiesen wird. Gerade wer sich aus humanitären Gründen für das Leben von Menschen einsetzt, sollte sich an diesem Prozess nicht beteiligen.
Der Autor ist Schriftsteller und schreibt regelmäßig für Spiegel, Cicero und Welt.