In Hamburg ist es neuerdings verboten, für ein Kalifat in Deutschland zu demonstrieren. So richtig einig sind sich die Parteien aber noch nicht, wie gefährlich sie die Demos finden, und ob die Kalifatsfreunde vielleicht nur eine merkwürdige Meinung vertreten, die um der Meinungsfreiheit willen geschützt gehört.
In dieser Lage wäre eine einfache Frage hilfreich: Was heißt heute Kalifat? Theoretisch ist es die Herrschaft eines Kalifen, der als Nachfolger des Propheten Mohammed gilt. Praktisch ist es nicht so harmlos, wie wir von den Überlebenden des jüngsten Kalifats wissen, das der »Islamische Staat« vor zehn Jahren in Syrien und im Irak ausrief.
Damals wurden Tausende Christen als Ungläubige vertrieben und mehrere Hundert entführt. Es folgte ein Völkermord an den Jesiden, bis zu 10 000 wurden massakriert, 7000 Frauen und Kinder versklavt, viele bestialisch missbraucht. Zugleich unterjochte das Kalifat Hunderttausende Muslime. Das sollte man sich klarmachen, um Raheem Boateng, den Anmelder der Hamburger Demos von »Muslim Interaktiv«, besser zu verstehen. Der behauptete am vergangenen Samstag vor 2500 Sympathisanten: Er fordere ein Kalifat »nur für den Nahen Osten«.
Zwei Wochen zuvor waren seine Leute noch mit Schildern »Kalifat ist die Lösung« aufmarschiert. Weil die Behörden den Slogan nun verboten hatten, stand auf den Schildern »zensiert« oder »banned«. Passend dazu erschallte wieder die Klage über die deutsche »Meinungsdiktatur«. Lehramtsstudent Boateng trat abermals als Verteidiger muslimischer Rechte auf, behauptete außerdem, Deutschland stelle die Staatsräson (also die Solidarität mit Israel) über das Grundgesetz.
Das ist falsch. Und es ist israelfeindlich. Nicht ohne Grund wurde den Kalifatsfreunden verboten, zu Gewalt gegen Israel aufzurufen oder israelische Flaggen zu verbrennen. Diese Verbote benutzen sie nun, um sich als Opfer einer repressiven Politik und islamophober Medien zu inszenieren.
Es ist ein Opfernarrativ, wie man es schon von der Hamas kennt: erlogen und gefährlich. Denn es appelliert an das Gerechtigskeitsgefühl junger Muslime, um sie gegen Nichtmuslime zu mobilisieren. Indem die Fundamentalisten die Demokratie angreifen, schwingen sie sich zu Vorkämpfern der Antidiskriminierung auf.
Wird die Politik ihnen Einhalt gebieten? Bundesjustizminister Marco Buschmann, FDP, nannte Sympathiebekundungen für ein Kalifat »politisch absurd und abwegig«. Das reicht leider nicht. In Hamburg haben die Parteien der Mitte jahrelang Islamisten toleriert. Es wird Zeit, dass die Toleranz nicht mehr den Intoleranten nützt.
Die Autorin ist Leitende Redakteurin bei der Wochenzeitung »Die Zeit«.