Seit Jahren entfalten Populismus und Verschwörungserzählungen ihre destruktive Wirkung: Debatten sind polarisiert. Inzwischen scheint auch unsere Gesellschaft tief gespalten zu sein. Kommentare in sozialen Medien werden immer toxischer, knappe Behauptungen und Verschwörungsideologien scheinen einer großen Anzahl von Menschen viel zu oft überzeugender als gut recherchierter und differenzierter Journalismus.
Die Zweifel an der Demokratie nehmen zu. Immer mehr junge Menschen in Europa glauben daran, dass autokratische Regierungen die Herausforderungen unserer Zeit besser meistern als demokratische. Wie gehen Minderheiten damit um? Leider allzu oft, indem sie Schutz, Geborgenheit und Vertrauen vor allem unter vermeintlich ihresgleichen suchen.
»Anderen« gegenüber empfindet man oft Distanz. Zum einen aufgrund fehlender Begegnungen, zum anderen gibt es jedoch tatsächliche Vorbehalte und Misstrauen, da nicht selten aus den jeweils anderen Gruppen emotionale Verletzungen oder gar tätliche Angriffe zugefügt werden.
Aus Verunsicherung suchen Minderheiten Schutz, Geborgenheit und Vertrauen vor allem unter vermeintlich ihresgleichen.
Dieser Reflex des Rückzugs auf die eigene Community jedoch hilft weder dem Zusammenhalt der Gesellschaft noch wirkt er gegen Polarisierung. Abschottung aus Angst ist vielleicht eine nachvollziehbare Reaktion, akzeptieren dürfen wir diesen Trend jedoch nicht. »Wenn ich nicht für mich selbst bin, wer ist für mich? Wenn ich nicht für andere bin, wer bin ich? Und wenn nicht jetzt, wann?«
HILLEL Rabbi Hillel erinnert uns daran, uns zu fragen, wer wir sind, was wir sein wollen und wann der richtige Zeitpunkt ist. Die Qualität der Antworten bestimmt den Grad an Humanismus und Zivilisation. »Jetzt!« ist seine Antwort auf die Frage nach der richtigen Zeit. Zum Menschsein gehört für Hillel, für sich selbst zu sein, aber mehr noch: für andere zu sein.
Genau das brauchen wir jetzt mehr als je zuvor. Ich möchte nicht verkennen, dass es nicht immer einfach ist, auf andere zuzugehen. Gerade dann, wenn man vorher schlechte Erfahrungen gemacht hat. Dialog bedeutet auch, über den eigenen Schatten zu springen. Es kostet Überwindung!
Doch diese Kosten haben einen Gegenwert: Abbau von Vorurteilen, das Schaffen von Empathie, das Entstehen von Freundschaften. Jede Initiative, die Mauern einreißt, Brücken baut, Menschen zusammenbringt, Solidaritäten schafft, ist daher zu begrüßen und zu unterstützen.
Dialog bedeutet auch, über den eigenen Schatten zu springen. Wir müssen füreinander da sein.
Ich bin nicht jüdisch, und mir ist wichtig, mich mit Jüdinnen und Juden solidarisch zu zeigen. Aus diesem Grund engagiere ich mich gegen Antisemitismus! Und genauso dürfen auch andere von Diskriminierung und Hass betroffene Gruppen nicht allein gelassen werden. Wir müssen füreinander da sein.
Elie Wiesel hat vor der Gefahr der Gleichgültigkeit stets gewarnt und geschworen, niemals zu schweigen, wann immer und wo immer ein Mensch zu leiden hat oder gedemütigt wird: »Man muss immer Partei ergreifen!«