Seit Monaten wartete meine über 80-jährige Mutter wie viele andere Menschen darauf, endlich gegen Covid-19 geimpft zu werden. Es klappte. Sie bekam einen Termin über das Münchner Gesundheitsamt – jedoch ausgerechnet am Schabbat. Einen anderen Tag verweigerte ihr die Stelle.
Sie rief mich an. War es richtig, sich am Schabbat impfen zu lassen, nach Monaten des Wartens? Ich selbst vermutete gar einen potenziellen Bruch ihrer Menschenrechte und stellte genau diese Frage auf Facebook.
Die 43 Antworten kamen aus allen Ecken Deutschlands, Israels und Großbritanniens. Manche zeigten Bestürzung, andere, gerade die jüdischen Freunde, hatten eine deutliche Kernbotschaft: »Pikuach nefesh docheh Schabbat«: Menschenleben haben Vorrang selbst gegenüber dem Einhalten des Schabbats.
Koscheres Essen, Schabbat – so schwer ist das nicht, gerade wenn es nur um einen anderen Tag für einen Impftermin geht.
In Israel, berichtete ein Bekannter, werde sogar sieben Tage die Woche geimpft, eine andere Bekannte schrieb von einem Rabbiner in London, der das Vakzinieren am Schabbes sogar explizit erlaubt hätte. Es beruhigte uns.
PRAGMATISMUS Wünschenswert wäre dennoch, dass Behörden auf die paar kleinen Besonderheiten jüdischer Menschen eingehen könnten. Fragen der Vielfalt und Würde und wie Behörden im direkten Kontakt mit verschiedenen Menschen damit umgehen, muss ein erkennbarer integraler Teil des heutigen Dienstes sein und nicht nur ein schönes, aber leeres Bekenntnis. Koscheres Essen, Schabbat – so schwer ist das nicht, gerade wenn es nur um einen anderen Tag für einen Impftermin geht.
Am Ende sorgte der Termin – ausgerechnet am falschen Tag – in Kombination mit uraltem talmudischen Pragmatismus dafür, dass meine Mutter sich schließlich am vorvergangenen Samstag, Baruch Haschem, impfen lassen konnte. Ihre Zufriedenheit darüber war reine Schabbesfreude.
Der Autor ist Großbritannien-Korrespondent der »taz« in London.