Als am Nachmittag des 22. Mai die ersten Fotos aus dem gerade besetzten Institut für Sozialwissenschaften auftauchten, war es eigentlich schon zu spät: Die Bilder der verhüllten Besetzer, die aus den Fenstern lehnten, und ihre gewaltvollen Schriftzüge an den Türen überfluteten die Medien. In dem Entsetzen über die neue Radikalität der »Studentenproteste« ging völlig unter, dass unter den Besetzern wohl nur wenige waren, die hier eigentlich studierten.
Das zügige Statement des Fachschaftsrats des Instituts, der erklärte, dass er nichts von der Besetzung gewusst habe, nicht an ihr beteiligt sei, und die antisemitischen Parolen verurteile, wurde medial kaum mehr wahrgenommen. Dabei ist dieser Rat die einzige gewählte Vertretung der Studierendenschaft des Instituts. Wenn jemand also für die Studierenden sprechen darf, dann er.
Zwei Drittel der Beteiligten an den »pro-palästinensischen« Aktionen an Berlins Universitäten seien keine Studierende der Institutionen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra (SPD) am Montag, wie der »Tagesspiegel« berichtete. Gegenüber der Jüdischen Allgemeinen erklärte die Senatsverwaltung, diese Aussage basiere auf Einschätzungen aus einem internen Lagebild. Mehr will sie erstmal nicht verraten. Das ist schade, denn die Daten könnten durchaus helfen, ein differenziertes Bild von der Situation an den Berliner Unis zu zeichnen.
Wer die seit Monaten andauernden Campus-Aktionen verfolgt, entdeckt immer wieder die gleichen Gesichter, Redner, Veranstalter. Sicher sind einige von ihnen Studenten, sogar wissenschaftliche Mitarbeiterinnen findet man unter ihnen. Aber die Räume, die sie in der öffentlichen Wahrnehmung einnehmen, sind nicht allein ihre. Und auch den studentischen Rückhalt, den sie in ihren Statements gerne vorgaukeln, dürfte es so nicht geben.
Den studentischen Rückhalt, den die radikalen Gruppen in ihren Statements gerne vorgaukeln, dürfte es so nicht geben.
Eine Woche nach der Besetzung am Institut für Sozialwissenschaften meldete sich der Fachschaftsrat noch einmal zu Wort, diesmal mit einem langen Statement, welches, »ein Produkt einer intensiven und auch schmerzhaften Auseinandersetzung« der Studierenden sei. Darin verurteilt die Fachschaft den Angriff am 07. Oktober und nennt die Hamas eine »juden_jüdinnenfeindlichen Terrororganisation«, die immer noch israelische Geiseln gefangen hält. Die Besetzer ihres Instituts hätten »unmissverständlich antisemitische Hetze« betrieben, die Shoah relativiert und Angsträume für jüdische Studierende geschaffen. Dies sei verachtenswert und dürfe nie wieder passieren.
In einem Diskurs, in dem Studierenden per se, aber insbesondere den von linken, rassismuskritischen und auch postkolonialen Theorien geprägten Sozialwissenschaftlern unterstellt wird, in der Masse antisemitisch überzeugt zu sein, ist ein solches Statement doch ziemlich bemerkenswert.
Gleichzeitig kann das nicht relativieren, was jüdische Studierende seit Monaten erleben. Die wenigen, die sich auf die Gegenproteste auf ihrem Campus trauen, werden attackiert. Die vielen, die niemanden mehr erzählen, dass sie jüdisch sind, haben dafür gute Gründe: In Seminaren, auf Uni-Partys oder in Whatsapp-Gruppen erfahren sie, dass kaum jemand widerspricht, wenn etwas Antisemitisches geteilt wird. Und dass viele ihrer Kommilitonen angesichts der grausamen Kriegsbilder, die sie kontextlos in ihre Timelines gespült bekommen, die Proteste doch irgendwie richtig finden, über antisemitische Parolen hinwegsehen, Judenhass in Deutschland mit dem Krieg in Gaza rechtfertigen.
Die Besetzer schreien »das ist unsere Uni«, aber wer spricht hier eigentlich?
Die »Students Coalition Berlin«, die nicht nur das Institut für Sozialwissenschaften besetzte, sondern zuvor auch zu mehreren Besetzungen und Aktionen an der Freien Universität aufrief, hat auf Instagram 11.700 Follower. Auch wenn die Gruppe im Kern nicht mehrheitlich aus Studierenden bestehen mag, verwischen unter ihren Unterstützern die Grenzen. Auch das macht es den Radikalen so einfach, andauernd Statements im Namen »der Studenten« zu veröffentlichen. Bei der Hörsaalbesetzung an der FU schrien sie »Das ist unsere Uni!«, während jüdische Studierende aus dem Saal gedrängt wurden.
Die Mehrheit der Studierenden besetzt keine Institute, malt sich die Hände blutrot an oder sprüht Hamas-Symbole auf die Wände ihrer Uni. Aber sie lässt zu, dass eine immer noch kleine, radikalisierte Gruppe den öffentlichen und internen universitären Diskurs bestimmt. Vielleicht aus Überforderung, aus Unwissenheit, aber eben auch aus Ignoranz.
»Don’t be intellectually lazy«, forderte der israelische Geschichtsprofessor Yuval Harari nach dem 7. Oktober. Dass sich Studierende kritisch mit den Gruppen auseinandersetzen, die scheinbar für sie sprechen, dass sie sich abgrenzen, ist ein erster Schritt. Er schafft nicht nur endlich wieder mehr Sicherheit für jüdische Kommilitonen. Sondern eröffnet auch jene intellektuellen Diskursräume, die doch eigentlich an »unseren Unis« entstehen sollten.