Wenn in diesen Wochen vor dem Europäischen Gerichtshof über das Für und Wider ritueller Schlachtung debattiert und tatsächlich ein Totalverbot erwogen wird, tritt dabei das Hauptanliegen des Gerichtsverfahrens, die Religionsfreiheit, reflexartig in den Hintergrund.
Die wird nämlich durch die Möglichkeit der Einfuhr von koscherem Fleisch gerade in Zeiten der Corona-Pandemie – selbst innerhalb Europas – nicht gewährleistet sein.
Zeitgeist Ein Totalverbot ritueller Schlachtungen würde damit nur den Zeitgeist in Europa widerspiegeln: Tierschutz vor Religionsfreiheit! Ein pseudosachliches Argument, mit dem bereits seit Jahrhunderten das Schächten verboten wurde.
Angeblich geht es um das Tierwohl. Ein ethischer Wert an sich. Bei Schächtungen handele es sich um grausamste Tierquälerei, sind sich Tierschützer und eine breite Masse aufgeklärter Repräsentanten aus verschiedenen EU-Mitgliedstaaten sicher.
In Bezug auf den halachisch korrekt vorgenommenen Halsschnitt ohne vorherige Betäubung und die Ausblutung werden Juden wieder einmal archaische, rückständig-grausame Methoden unterstellt. Das christliche Abendland wähnt sich ja von jeher den Juden ethisch voraus und moralisch überlegen.
Stellenwert Vollständig ignoriert wird dabei, dass der Tierschutz in der jüdischen Ethik einen hohen Stellenwert einnimmt. Mit der Schechita wird von jeher ein das Leid des Tieres möglichst gering haltendes Tötungsverfahren angestrebt. Ein Schochet muss eine langjährige Ausbildung absolvieren, in der es sowohl um technische als auch um ethische Standards geht.
Tierschützern sollte grundsätzlich der Besuch eines beliebigen konventionellen Schlachtbetriebs in Deutschland empfohlen werden. Die dort herrschenden Zustände bei Anlieferung der Tiere und im Verlauf des Schlachtvorgangs dürften die meisten Menschen mit einem ethischen Kompass zu Vegetariern machen.
Die Heuchelei im Diskurs der Tierschützer in Bezug auf Schächtungen springt einem hier ins Gesicht.
Indien Eine vegetarische Lebensweise ist im Übrigen keine westeuropäische Errungenschaft. In Indien oder eben auch in Israel ist die vegane und vegetarische Bewegung sehr stark. Massenhafte Haltung und Schlachtung von Tieren, wie sie etwa in Deutschland gang und gäbe ist, wird von einer breiten Bevölkerungsschicht abgelehnt – dort geht das sogar ganz ohne religiöse Sündenböcke.
Die Autorin ist Journalistin und lebt in Luxemburg.