Gestern Morgen habe ich in der U-Bahn geweint. Eine gute Freundin hatte mir ein Video geschickt, »Kann man sich nicht oft genug anschauen«, schrieb sie. Zu sehen war das Amphitheater von Caesarea, in dem 1000 israelische klassische und moderne Musiker für die Rückkehr der nach Gaza verschleppten Geiseln spielten und sangen. »Habeita«, so der pop-rockige Refrain voller Geigen, »nach Hause«.
Das Video ist schon älter, aber in seiner Wirkung stärker denn je. Ich bin wirklich nicht nah am Wasser gebaut, aber mir schnürte es die Kehle zu. Verstohlen wischte ich mir unter der Brille die Augen, und ein Kind an der Hand seines Vaters sah mich besorgt an. Ich drehte mich weg.
»Habeita, habeita«, »nach Hause, nach Hause«. Wie eine Mutter, die ihr Kind, das draußen spielt, zum Essen ruft, wie mein Mann, der genug von einer Party hat, wie 120 Menschen, die in Tunneln und Wohnungen im Gazastreifen gefangengehalten, gefoltert und vergewaltigt werden. »Habeita!«
Die Gleichzeitigkeit wiegt schwerer jeden Tag. Wir frühstücken im Café, gehen zur Arbeit und danach ins Kino, treffen Freunde, besuchen und umarmen unsere Eltern, während 120 Menschen, von deren Schicksal wir nach den Aussagen von befreiten Geiseln Schlimmstes annehmen müssen, als Pfand eines politischen Machtkampfes missbraucht werden.
Ich betrachte meine Hand, während ich zum Mobiltelefon, Wasserglas, Stift greife und frage mich, was die jungen Frauen des Späherinnentrupps sehen, von denen gerade wieder ein Foto des reinsten Psychoterrors veröffentlicht wurde.
»Habeita! Habeita, achschaf!« Kommt sofort nach Hause!
Wie konnte dieses wunderschöne Wort solch eine Bedeutung bekommen, fragte mein Mann vor wenigen Tagen. Die Bahn fährt endlich weiter, ich nehme die Ohrstöpsel raus und versuche, den Kloß im Hals wegzuatmen. Den Refrain habe ich für den Rest des Tages im Kopf, und mein Gehirn spielt alle Bedeutungen durch, immer wieder. Ja, wie konnte dieses wunderschöne Wort solch eine Bedeutung bekommen?
Am Nachmittag dann plötzlich eine E-Mail mit einem anderen Video, bei dem auch »Home« im Titel steht. »Ein Jerusalemer Chor kommt in der Castingshow ›America’s Got Talent‹ mit seinem Song ›Home‹ weiter«, steht da. Und ich bekomme eine weitere Bedeutung geliefert: israelische und arabische Jugendliche singen zusammen davon, füreinander ein Zuhause sein zu wollen. Es geht ums Verlorensein und Gefundenwerden, um Vertrauen und eine sichere Zukunft für alle:
»Beruhige dich, alles wird klar werden/ Höre nicht auf die Dämonen, die dich mit Schrecken füllen/ Wenn du verloren bist, kannst du gefunden werden/ Ich werde dir hier ein Zuhause geben«.
»Wir glauben, dass wir durch die Musik, durch die Zusammenarbeit und das Gespräch miteinander einen Schritt vorwärts machen, um diese wunderbare Zukunft aufzubauen, in der es Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Integration gibt«, sagt ein Mädchen mit Zahnspange, das neben einem Jungen steht, der die bekannte Silberkette mit dem »Bring them home now«-Anhänger trägt.
Diesmal muss ich nicht weinen, ich fühle Hoffnung, fühle mich bestärkt darin, dass 120 Geiseln nach Hause kommen werden. Wir dürfen den Glauben daran niemals aufgeben. Habeita!