Im Talmud (Bava Metzia 59b) lernen wir, dass die Tora uns 36-mal – manche Rabbinen sagen sogar 46-mal – davor warnt, dass wir den Ger, den Fremden, der mit uns lebt, nicht schlecht behandeln dürfen. An mehreren Stellen finden wir die Anweisung, dass der Fremde denselben Rechtsstatus wie wir genießen soll; dass wir mehr Verantwortung haben, als nur Misshandlung zu vermeiden; dass der Fremde dasselbe Wohlfahrtsanrecht wie ein jüdischer Bewohner hat; dass wir sogar so weit gehen müssen, den Fremden zu lieben.
Der Grund, den die Tora liefert, ist einfach: Das jüdische Volk weiß, was es bedeutet, fremd zu sein – eine historische Tatsache, die fast alle Juden aufgrund ihrer eigenen Familiengeschichte nachvollziehen können.
strömungen Die große Mehrzahl meiner rabbinischen Kollegen, darunter Vertreter aller religiösen Strömungen, sehen es deshalb wie ich als unsere religiöse Pflicht an, die Pläne der britischen Regierung zu kritisieren, Asylsuchende, die illegal in Großbritannien ankommen, nach Ruanda abzuschieben. Da es momentan praktisch keine Möglichkeiten gibt, legal nach Großbritannien einzureisen, um Asyl zu beantragen, würde eine Umsetzung der Pläne bedeuten, dass Großbritannien seine Grenzen komplett für Asylbewerber dichtmachen würde – eine Politik, die mit der Halacha in keiner Weise vereinbar ist.
Selbst der soeben zum König ausgerufene Charles III. kritisierte noch als Thronfolger privat die Pläne der Regierung.
Und wir sind mit unserer Kritik nicht allein. Der Erzbischof von Canterbury nutzte die Aufmerksamkeit, die seine Osterpredigt genießt, um ebenfalls den Protest der anglikanischen Kirche zum Ausdruck zu bringen. Selbst der soeben zum König ausgerufene Charles III. kritisierte noch als Thronfolger privat die Pläne der Regierung.
Meine rabbinischen Kollegen und ich haben nun die Wahl von Liz Truss zur neuen Premierministerin genutzt, um erneut mit einem Offenen Brief auf die Regierung Druck auszuüben, den Ruanda-Plan aufzugeben. Da aufgrund von laufenden Gerichtsverhandlungen bisher noch kein Abschiebeflug stattfinden konnte, ist es noch nicht zu spät für die Regierung, das Richtige zu tun.
Die Autorin ist Rabbinerin in London.