Nachdem die Gedenkstätte Buchenwald, den behördlichen Vorgaben zum Corona-Infektionsschutz folgend, die 2G-Regel eingeführt hatte, erreichten sie in den vergangenen Wochen Hunderte Hassmails aus dem »Querdenken«-Milieu. Die Gedenkstätten-Mitarbeiter seien »die neuen Nazis« und »Dr. Mengeles«, war darin zu lesen, und Ungeimpfte seien die »neuen Juden«. Derartige NS-Gleichsetzungen sind nicht nur geschmacklos, sondern sie verharmlosen den Nationalsozialismus und spielen dem Geschichtsrevisionismus und antisemitischer Hetze in die Hände.
Auch auf den »Spaziergängen«, bei denen ungestört »Reichsbürger« und Rechtsextreme mitmarschieren, werden solche Parolen verbreitet, von den einschlägigen Telegram-Gruppen ganz zu schweigen. Die Holocaust-Verharmlosung gehört zur ideologischen Grundausstattung der Szene.
HALLE Und der geht es längst nicht mehr nur um Kritik an einzelnen Infektionsschutzmaßnahmen, sondern darum, die plurale, demokratische und solidarische Gesellschaftsordnung an sich zu delegitimieren. Mit antisemitischen Verschwörungslegenden wird gezielt versucht, die liberale Demokratie zu bekämpfen.
Dass der Geschichtsrevisionismus derart virulent werden würde, wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen.
Welche Folgen solche Verschwörungserzählungen haben, zeigen nicht zuletzt die Mordanschläge von Halle und Hanau. Dass der Geschichtsrevisionismus derart virulent werden würde, wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen.
Die Ursachen sind vielschichtig und haben viel mit allgemeinen antidemokratischen und antimodernen Ressentiments zu tun. 80 Jahre nach der Wannsee-Konferenz spielen aber auch der wachsende zeitliche Abstand zum historischen Geschehen und der Abschied von den Zeitzeugen eine Rolle.
SCHUTZSCHIRM Über Jahrzehnte erhoben die Überlebenden der Schoa ihre warnenden Stimmen, sobald Antisemitismus und NS-Verharmlosung aufkamen. Nicht nur für die Gedenkstätten und die Erinnerungskultur, sondern für die Demokratie insgesamt bildeten sie einen Schutzschirm. Der ist sehr löchrig geworden.
Das bedeutet, dass wir das reflexive Geschichtsbewusstsein als Errungenschaft unserer liberalen demokratischen Gesellschaftsordnung selbst beschützen müssen: indem wir Verschwörungslegenden, Hass, Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus laut und deutlich in die Grenzen weisen.
Der Autor ist Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Weimar.