Stephan Lehnstaedt

Gedenken heißt mehr als Auschwitz

Stephan Lehnstaedt, Professor für Holocaust-Studien am Touro College Berlin Foto: Uwe Steinert

Stephan Lehnstaedt

Gedenken heißt mehr als Auschwitz

Deutschland sollte nicht die Prioritäten der Erinnerung setzen. So droht das Andenken an das polnische oder ukrainische Judentum zu verschwinden

von Stephan Lehnstaedt  07.11.2019 08:53 Uhr

Mit 30 Millionen Euro wollen die Bundesländer den Erhalt der Gedenkstätte Auschwitz finanzieren. Das ist höchst ehrenwert und ein wichtiges Bekenntnis zur historischen Verantwortung. Allerdings gibt Deutschland jenseits der eigenen Grenzen eigentlich nur dort und in Yad Vashem dauerhaft nennenswerte Beträge für Orte des Gedenkens an Verfolgung und Vernichtung.

Die Gedenkstätte Sobibor etwa, wo Deutsche rund 200.000 Jüdinnen und Juden ermordeten, wird mit 900.000 Euro abgespeist. Treblinka mit rund 800.000 Toten oder Belzec mit einer halben Million Opfer erhalten gar nichts. Die Beispiele ließen sich nahezu beliebig weiterführen, aber diese drei Lager der »Aktion Reinhardt« stehen für den Mord an 1,8 Millionen Juden aus Polen, mithin für den Kern des Holocaust.

In Auschwitz starben vor allem westeuropäische und ungarische Juden.

Natürlich ist Auschwitz weltweit dessen Symbol. Die dortige Gedenkstätte leistet hervorragende Arbeit, und selbstverständlich ist es sinnvoll, dorthin (viel) Geld zu geben. Aber es perpetuiert auch einen statischen Blick auf den Genozid an den europäischen Juden: In Auschwitz starben vor allem westeuropäische und ungarische Juden.

BELZEC Für die Opfer aus anderen Regionen fehlt die Aufmerksamkeit. Es fehlt auch das Wissen darüber, dass für den Massenmord keinesfalls ein gigantischer Komplex wie in Auschwitz notwendig war – der wurde ausschließlich für Zwangsarbeit benötigt. In Belzec reichten sechs Hektar und wenige, bereits 1943 fast spurlos beseitigte Holzbaracken für die Vernichtung. Deshalb gibt es dort keine Überreste, kein Authentizitätsversprechen und keinen Gruselfaktor, sondern lediglich eine kleine, ausgezeichnete Gedenkstätte.

Doch warum fließt kein Geld, um etwa das Andenken an das ausgelöschte polnische oder ukrainische Judentum wachzuhalten – oder besser: dafür überhaupt erst ein Bewusstsein zu schaffen? Es ist absurd, wenn Deutschland die Prioritäten der Erinnerung setzt, den Holocaust auf Auschwitz reduziert und die Finanzierung von Gedenken und Information an Hunderten anderen deutschen Mordstätten den Ländern überlässt, in denen sie nach der Befreiung zufällig liegen.

Der Autor ist Professor für Holocaust-Studien am Touro College Berlin.

Kommentar

Erdoğans Vernichtungswahn ist keine bloße Rhetorik

Der türkische Präsident hat nicht nur zur Auslöschung Israels aufgerufen, um von den Protesten gegen ihn abzulenken. Deutschland muss seine Türkeipolitik überdenken

von Eren Güvercin  01.04.2025

Essay

Warum ich stolz auf Israel bin

Das Land ist trotz der Massaker vom 7. Oktober 2023 nicht zusammengebrochen, sondern widerstandsfähig, hoffnungsvoll und vereint geblieben

von Alon David  01.04.2025

Meinung

Festtag für Judenhasser

Eine Schande für die Demokratie: Warum die Al-Quds-Märsche endlich verboten werden müssen

von Uwe Becker  01.04.2025

Meinung

Marine Le Pen: Zu Recht nicht mehr wählbar

Der Ausschluss der Rechtspopulistin von den Wahlen ist folgerichtig und keineswegs politisch motiviert

von Michael Thaidigsmann  31.03.2025

Essay

Dekolonisiert die Dekolonialisierung!

Warum die postkoloniale Theorie jüdische Perspektiven anerkennen muss

von Lisa Bortels  31.03.2025

Ron Dekel

Eine verschleppte Chance

Das Projekt eines deutsch-israelischen Jugendwerks versinkt in bürokratischen Debatten und ist damit ein Sinnbild für Deutschlands Trägheit im Kampf gegen Antisemitismus und Israelhass

von Ron Dekel  27.03.2025

Meinung

Ihr wart nicht da!

Die Berichterstattung deutscher Medien über den Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah ist einseitig und stellt die Terrororganisation Hisbollah mit dem Staat Israel auf eine Stufe

von Sarah Maria Sander  26.03.2025

Meinung

Itamar Ben-Gvir und die rote Ampel

Warum die Rückkehr des Rechtsextremisten in Israels Regierung auch uns Juden in der Diaspora zutiefst beunruhigen muss

von Ayala Goldmann  25.03.2025 Aktualisiert

Ayala Goldmann

Benjamin Netanjahu und der »Deep State«

Israels Premier wird bei der hochumstrittenen »Justizreform« keine Kompromisse machen, die seine Macht gefährden

von Ayala Goldmann  25.03.2025