»Liri«, schreit er in den Abendhimmel. Immer wieder und immer lauter. »Liri – Liri – Liri Scheli!« So, als könne sie ihn hören. Die Verzweiflung ist in der Stimme zu hören, wenn Eli Albag »seine Liri« ruft. Es schmerzt in den Ohren und in den Herzen. Viele Menschen weinen hier, auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv, mit dem Vater, der fleht, dass seine Tochter endlich nach Hause kommt.
Die 19-Jährige Liri Albag ist so nah und doch so fern. In weniger als zwei Stunden wäre man dort, wo sie ist. Aber niemand fährt nach Gaza, und niemand kommt aus Gaza heraus. Denn Liri ist Geisel der Hamas. Seit 15 Monaten wird der Teenager gefangen gehalten. In einer Realität, die wohl so schrecklich ist, dass man sie sich nicht einmal ausmalen kann.
Vor zwei Wochen wurde ein Geiselvideo von Liri veröffentlicht. »Das, was wir gesehen haben, ist nicht mehr wie unsere Tochter«, sagten Eli Albag und seine Frau Shiri anschließend zutiefst geschockt. Es war ein Lebenszeichen von Liri, ja. Aber auch ein Zeichen, wie unfassbar grausam ihre Realität ist und wie sehr die Zeit drängt, sie noch lebend zu befreien.
So oft schon haben die Albags und alle Angehörigen der Geiseln auf einen Deal gehofft und erwartet, dass ihre Liebsten in den kommenden Tagen oder Wochen in ihre schützenden Arme zurückkehren. So oft wurden sie bitter enttäuscht.
Darüber, dass Liri und alle anderen 97 Geiseln, die noch in Gaza sind, nach Hause kommen müssen, sind sich alle Menschen in Israel einig. Darüber, wie das geschehen soll, allerdings nicht. Nach neuesten Informationen soll Liri zu der ersten Gruppe gehören, die freikommt. Dann könnte die junge Frau mit den langen dunklen Haaren und dem eigentlich fröhlichen Lachen zusammen mit Naama Levy, Agam Berger, Daniela Gilboa und Karina Ariev freikommen.
Am verfluchten Morgen des 7. Oktobers 2023 wurden die fünf Israelinnen aus ihrer Armeebasis in Schlafanzügen von schwerbewaffneten grausamen Terroristen in die Hölle verschleppt. Am 19. Januar 2025 könnten sie über die Grenze nach Israel gefahren werden und in die schützenden Arme ihrer Eltern laufen. Wenn der Deal zustande kommt.
Natürlich wäre es das Richtige, dass die Hamas sie gehenlässt, ohne Forderungen zu stellen. Schließlich sind sie die Verantwortlichen für dieses Grauen. Doch wer argumentiert, dass die Hamas sie doch freilassen und gleichzeitig auch noch die Waffen niederlegen soll, der argumentiert mit westlichen Werten und versteht nicht, welch radikal-islamistische Ideologie die Organisation bestimmt.
Die Hamas ist nicht »nur« Terrororganisation, sie ist eine, die kein Leben ehrt und jegliche westlichen Werte verabscheut. Anhänger der Hamas verherrlichen den Tod und schrecken auch nicht davor zurück, ihr eigenes Volk, ja ihre eigenen Anhänger zu ermorden, wenn sie es auch nur im Geringsten wagen, ihre Ideologie des Hasses oder Macht anzuzweifeln.
Doch es gibt auch Mitglieder in der israelischen Regierung, die das Leben nicht ehren, wenn es darum geht, ihre Ideologie zu verteidigen. Obwohl sie sich als »religiöse Juden« bezeichnen und offizielle Vertreter einer westlichen Demokratie sind, ist es ihnen wichtiger, ihre Träume von jüdischen Siedlungen in Gaza Realität werden zu lassen, als das Leben der Töchter, Söhne, Väter und Mütter ihrer Landsleute zu retten.
Das Betteln von Eli Albag fällt sowohl bei der Hamas als auch bei den Regierungsministern Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir auf taube Ohren. Doch niemand und nichts wird die Herzen dieser Hardliner erweichen. Sie sind prall gefüllt mit hässlichen Ideen, um ihre ultranationalistischen Ziele zu erreichen.
Doch bei einem Geiseldeal geht es nicht um Ideologien, sondern um einen einzigen Wert: den, unschuldiges Menschenleben zu schützen. Das schreibt sich jede Demokratie, die an Menschenrechte glaubt, auf die Fahnen. Agam, Daniela, Karina, Naama, Liri und all die anderen Geiseln sind unschuldig. Sie verdienen Freiheit und ihre Würde zurück. Nichts davon gibt es in Gaza. Und nur ein Deal wird sie ihnen wiedergeben – und allein deshalb muss es ihn geben.
»Dei«, hat Liris Mutter Shiri Albag am vergangenen Samstag vor all jenen geschrien, die gekommen waren, um sie zu unterstützen. »Genug. Gebt mir endlich meine Tochter zurück.« Ja, genug! Gebt endlich ihre Tochter zurück!
Die Autorin ist Israel-Korrespondentin der Jüdischen Allgemeinen.