Europa zu führen – diese Bürde lastet zu einem dramatischen Zeitpunkt auf Deutschland. Der Kontinent ist angeschlagen wie nie zuvor seit 1945. Es ist ein Europa ohne kulturelles Leben: ohne Konzerte, Festivals, religiöse Zusammenkünfte, Auslandsreisen, Messen. Hinzu kommt: Der Kalte Krieg ist nicht vorbei. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs – Brexit und Flüchtlinge, Putin und sein neu-altes Reich, das sogar in Deutschlands Cyberwelt eindringt. Und nun auch noch das neue Virus.
Stimmt, die EU ist in keinem Kriegszustand. Es gibt keine reale Bedrohung größerer bewaffneter Konflikte. Es sind tieferliegende Strömungen, die den Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaften bedrohen – in Form kultureller, ethnischer und ideologischer Gruppen.
AUFGABEN Erinnern wir uns: Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war das Zentrum Europas das angeschlagene Habsburgerreich, dessen zahlreiche ethnische Minderheiten sich bemühten, dem Griff seiner korrupten und unfähigen Zentralregierung zu widerstehen. Anstatt es zu reformieren, brachten sie Zerstörung auf dem Kontinent – und darüber hinaus.
Wir sollten uns heute davor hüten, die EU-Kommission als das neue schwache Zentrum eines neuen europäischen Reiches zu betrachten, auch wenn in den letzten Jahren und Monaten klar wurde, dass sie die dringendsten Aufgaben auf ihrem Tisch nicht bewältigen kann: Eurokrise, Flüchtlinge, Corona.
In Krisensituationen der vergangenen Jahre bewies die Bundesregierung unter Angela Merkel Vernunft und Sensibilität.
In allen drei Fragen war es die Bundesregierung unter Angela Merkel, die bisher sowohl Vernunft als auch Sensibilität bewiesen hat: in Europa führend zu sein und Lösungen für die gegenwärtigen Bedürfnisse anzubieten.
»Tikkun Olam« Dabei macht die Bundeskanzlerin klar: Die wirklichen Auswirkungen der Corona-Krise stehen uns noch bevor. Und nur außergewöhnliche Maßnahmen werden sicherstellen, dass der Weg zu dem führt, was wir in der jüdischen Tradition »Tikkun Olam« nennen, Heilung der Welt: Umkehr von unseren weltlichen Versäumnissen, Hinwendung zu mehr Solidarität innerhalb und außerhalb Europas sowie mehr politische Sorge um Natur und Umwelt.
Oder das Gegenteil passiert: Abdriften in Verzweiflung, Wutpopulismus, Extremismus und Sozialdarwinismus. Hoffen wir, dass Deutschland auch während seiner EU-Ratspräsidentschaft den ersten Weg weist – vernünftig und sensibel.
Der Autor ist Publizist und Kommentator für Europäische Angelegenheiten in Israel.