Der Fortschritt ist bekanntlich eine Schnecke. In der europäischen Politik gilt dieser Satz ganz besonders. Deswegen ist der einstimmige Beschluss zum Antisemitismus, den der EU-Ministerrat vergangene Woche fasste, durchaus bemerkenswert. Erst zwei Jahre ist es her, dass sich die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten zum ersten Mal überhaupt zu einer gemeinsamen Erklärung zum Antisemitismus durchgerungen hatten. Jetzt wurde der Text von 2018 konkretisiert.
Vor allem Deutschland, das noch bis Ende Dezember den Ratsvorsitz in Brüssel innehat, hatte darauf gedrängt. Die Gewährleistung der Sicherheit jüdischer Gemeinden müsse EU-weit höchste Priorität haben, fordert die Erklärung. Wichtig sei auch eine »systematische Meldung und Erfassung« antisemitischer Vorfälle – auch solcher, die nicht strafrechtlich relevant sind.
DEFINITION Außerdem müsse die IHRA-Arbeitsdefinition zum Antisemitismus in allen EU-Ländern zur Geschäftsgrundlage für den Kampf gegen den Judenhass gemacht werden. Bislang haben das allerdings erst 18 der 27 Mitgliedstaaten getan. Auch der Dialog zwischen Politik und jüdischen Gemeinden sei relevant, so die Erklärung. Das klingt zwar wie eine Binse, war aber bis vor Kurzem keineswegs gang und gäbe.
Einige jüdische Gemeindevorsitzende aus kleineren EU-Staaten waren dem Vernehmen nach hoch erfreut, endlich politische Ansprechpartner im Regierungsapparat zu bekommen. Man sieht also: Selbst unverbindliche Erklärungen können durchaus das Papier wert sein, auf dem sie gedruckt sind.
Bereits die Ratserklärung von 2018 hatte die Regierungen aufgefordert, konkrete Aktionspläne gegen den Antisemitismus vorzulegen.
Dennoch wirkt es einigermaßen schizophren, wenn EU-Länder in Brüssel zwar hehren Erklärungen zustimmen, zu Hause aber mehr mit Däumchendrehen als mit resolutem Handeln gegen Antisemitismus auffallen. Bereits die Ratserklärung von 2018 hatte die Regierungen aufgefordert, konkrete Aktionspläne gegen den Antisemitismus vorzulegen.
Dem ist bislang nicht einmal die Hälfte der 27 Staaten nachgekommen. Zu den Nachzüglern gehört neben Griechenland, Spanien und Portugal auch Belgien. Irritierend ist auch, dass das Thema Religionsfreiheit in der Erklärung überhaupt nicht erwähnt wird. Aber dazu fehlte offenbar der politische Wille.