Die meisten NS-Täter und -Täterinnen konnten ihr Leben genießen, weil die Justiz lange mit der Verfolgung ihrer Verbrechen nicht ernst machte. In Westdeutschland wurde nur etwa ein Prozent der an der Schoa Beteiligten vor Gericht gestellt.
Zwei Dinge konnten jedoch in der juristischen Aufarbeitung des Genozids an den europäischen Juden in den vergangenen 60 Jahren erreicht werden: zum einen die 1979 vom Bundestag beschlossene Unverjährbarkeit von Mord, zum anderen die in den 60er-Jahren einsetzende Erkenntnis, dass für die Schoa mehr als nur eine Handvoll Leute verantwortlich waren.
Der jüdische Generalstaatsanwalt von Hessen, Fritz Bauer, pochte seinerzeit zu Recht darauf, dass die Schoa nur durch massenhafte Arbeitsteilung möglich gewesen ist. Der Bundesgerichtshof (BGH), bei Strafverfahren die höchste Instanz in Deutschland, stellte sich damals noch gegen diese Einschätzung.
Irmgard F. unterstützte durch die Ausübung ihrer Tätigkeit die Tötung Tausender KZ-Häftlinge.
Erst das Landgericht München folgte über 40 Jahre später dem Argument Bauers und verurteilte 2011 den ukrainischen SS-Gehilfen John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an 28.000 Insassen des Vernichtungslagers Sobibor, weil er »Teil der Vernichtungsmaschinerie« gewesen war.
Der BGH hat nun ebenfalls die Chance einzulösen, was schon lange richtig ist. Vor dem Gericht wird derzeit der Fall der 99-jährigen Irmgard F. verhandelt, die als junge Frau Sekretärin im KZ Stutthof gewesen ist. Sie war zwar nicht unmittelbar an der Tötung Tausender Häftlinge beteiligt, wirkte aber durch die Ausübung ihrer Tätigkeit unterstützend.
Der BGH sollte diesen Umstand anerkennen und damit eine historische Richtigstellung der eigenen Rechtsprechung vornehmen. Denn die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen bleibt auch und gerade dann wichtig, wenn es kaum noch Möglichkeiten dazu gibt. Erinnerungskultur und der Wunsch nach Versöhnung hängen dort im luftleeren Raum, wo die Justiz schläft.
Der Autor ist Jurist und Publizist. 2021 erschien sein Buch »Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen«.