Glosse

Ein Hoch auf die Israelkritik

Frei nach Georg Kreisler könnte man sagen: Heute findet jede Zeitung größere Verbreitung durch Israelkritiker.

Der »Spiegel« bildet da keine Ausnahme. Deutschlands eminentes Nachrichtenmagazin bietet der Israelkritik nämlich allwöchentlich genau jenen Rang, der ihr gebührt. Und den die geschätzte »Spiegel«-Leserschaft auch erwartet.

Ein Beispiel: Im Inhaltsverzeichnis der neuen Printausgabe wird ein »Gespräch mit dem Intellektuellen Pankaj Mishra über die Haltung Deutschlands im Gazakrieg« angekündigt. Der Autor dieser Glosse kann es natürlich nicht beschwören, aber viele Spiegel-Leser dürften angesichts dieser Ankündigung unverzüglich auf Seite 76 vorgeblättert haben, um dort mehr über die Einschätzungen eines relativ unbekannten indischen Essayisten und Literaturkritikers zum Nahostkonflikt und zum kollektiven Versagen der deutschen Eliten diesbezüglich zu erfahren.

Gut ist auch, dass sich das dreiseitige Interview mit Mishra auf das Wesentliche konzentriert. Alles dreht sich nur um ein Thema: Israel. Warum sich der »Spiegel« ausgerechnet mit Mishra auf ein Gespräch getroffen hat, verrät Interviewer Bernhard Zand schon in der dritten Frage: »Nun haben Sie ein Buch geschrieben, das vernichtende Kritik an Israel und seinen Unterstützern übt.« Andere Nahostexperten standen sicher auch bereit, aber - der Leser spürt es von Anfang an - die Wahl Mishras war definitiv die richtige.

Seit Jahren ist Israel ein absolutes Gewinnerthema für das Hamburger Nachrichtenmagazin. Die Beiträge dazu werden gerne gelesen und viel diskutiert. Manchmal führen sie sogar dazu, dass andere Zeitungen sich bemüßigt fühlen, Kommentare und Glossen darüber zu schreiben.

Auch für Mishra übrigens war das »Spiegel«-Interview ein Jackpot-Gewinn. So konnte er nämlich kostenlos Werbung für sein jüngst in deutscher Übersetzung erschienenes Buch Die Welt nach Gaza machen. Sein Verlag, S. Fischer, nennt es stolz »Die kritische Analyse des Gaza-Krieges von einem der großen international anerkannten Intellektuellen«.

Und noch einen Gewinner gibt es: die »Spiegel«-Leser. Die wissen nach Lektüre des Gesprächs (und vermutlich auch des Buches) mehr. Denn die Israel-Kritik, die der 56-jährige Inder im Interview abliefert, ist, sagen wir es mal mit unserem Ex-Bundestrainer Joachim Löw, »högschdes Niveau«.

Das fängt schon mit der Überschrift an. »Auch die Deutschen müssen die moralische Freiheit haben, das Falsche als falsch zu bezeichnen«, wird Mishra da zitiert. Was er damit meint, ist klar: Deutschland unterstützt im Nahostkonflikt wegen seiner Geschichte die falsche Seite. Es macht sich gemein mit Israel und mit den Juden, den Tätern von heute also. Dabei müsste Deutschland doch aus seiner Geschichte lernen, sich nicht mit den Unterdrückern gemein zu machen, findet Mishra.

Die Hamas als Freiheitskämpfer

Die Freiheit, die er den Deutschen zubilligt, nimmt er sich im Verlauf des Interviews auch selbst heraus. An Israels Vorgehen lässt er hingegen kein gutes Haar. Der letzte gute israelische Politiker, an den er sich erinnern kann, war der mit der Augenklappe, also Ex-Verteidigungsminister Mosche Dajan (1915-1981). »Israelische Militäreffizienz« und »Heldentum« habe Dajan verkörpert - und »eine Gesellschaft von großem Zusammenhalt«.

Der 7. Oktober 2023 sei zwar schlimm gewesen und Israel habe durchaus das Recht gehabt, darauf zu antworten. Aber, so Mishra: »Ich teile die Hamas-Obsession nicht, die von den Verteidigern Israels immer erwartet wird. Ständig wird man gefragt: Warum sprechen Sie nicht von der Hamas, die damit droht, Israel von der Landkarte zu tilgen?«

Auf Zands Nachbohren behauptet er dann, die islamistische Terrortruppe habe schließlich einer Zweistaatenlösung zugestimmt. Und überhaupt, viele Widerstandsbewegungen hätten sich ja terroristischer Mittel bedient. Mishra nennt den Afrikanischen Nationalkongress (ANC) von Nelson Mandela als Beispiel.

Als Zand ein »Vergleichen Sie die Hamas mit dem ANC?« einwirft, weicht Mishra aus und lenkt das Gespräch auf Indien im Jahr 1857. Damals, während des indischen Aufstands gegen die britischen Kolonialisten, seien »Grausamkeiten an europäischen Männern, Frauen und Kindern verübt (worden), gegen die selbst die Taten des 7. Oktober verblassen«. Heute würden die Täter von damals in ganz Indien als Freiheitskämpfer verehrt. Vor dem geistigen Auge des »Spiegel«-Lesers erscheint nun eine Bronzestatue zu Ehren von Yahya Sinwar...

Der Globale Süden spricht

Doch Bernhard Zand lässt nicht locker, treibt das Gespräch voran. »Worauf wollen Sie damit hinaus?«, fragt er. Doch längst hat Mishra ihn da, wo er ihn haben will: »Man muss die Ausbrüche von Gewalt durch nicht staatliche Akteure in ihrem historischen Kontext sehen. Ich verurteile die Gräueltaten der Hamas, aber ich werde den 7. Oktober 2023 nicht losgelöst von der langen Geschichte der Menschen betrachten, die sich auf grausame und brutale Weise gegen ihre langjährigen Unterdrücker erhoben haben.« Der Globale Süden hat gesprochen, Einwände sind zwecklos.

Aber Mishra ist noch längst nicht fertig. Der Israel-Kritiker kritisiert auch die Medien scharf, besonders die deutschen. Selbst der »Spiegel« habe einseitig über das Leid der Israelis berichtet, aber nicht über das der Palästinenser in Gaza, wettert er. Zand legt »entschiedenen Widerspruch« ein und feuert zurück. Die Rollen sind vertauscht, jetzt muss der Interviewer Antworten liefern und nicht sein Gesprächspartner. Es gelingt ihm leidlich: »Wir berichten sehr ausführlich und sehr genau über die Opfer auf der palästinensischen Seite. Das gilt auch für zahlreiche andere Medien.«

Pankaj Mishra war also offensichtlich nicht richtig informiert. Denn tatsächlich, das darf man schon mal festhalten an dieser Stelle, hat kaum ein deutsches Medium seit dem 7. Oktober 2023 genau diesem Thema so viel Platz eingeräumt wie der »Spiegel«.

Und tatsächlich hat der »Spiegel« durchaus Mishras Diktum beherzigt und »aus der Geschichte gelernt«. Die Online-Version des Interviews wurde sogar mit einem Foto von Bundeskanzler Olaf Scholz in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem bebildert. Damit es auch ja jeder mitbekommt, welchen Zusammenhang es da gibt.

Nein, die Kritik des indischen Kritikers an der deutschen Erinnerungskultur, sie geht völlig ins Leere. Der »Spiegel« lässt regelmäßig Menschen zu Wort kommen, für die sinngemäß auch das Motto des Kreislerschen Musikkritikers gilt: »Ich hab zwar keine Ahnung, was Musik ist, denn ich bin beruflich Pharmazeut. Aber ich weiß sehr gut, was Kritik ist: Je schlechter, umso mehr freuen sich die Leut.«

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