»Eh, er läuft wie ein Jude.« Alle Kinder lachen. Der beleidigende Schüler fühlt sich wie »der King«. Der betroffene Schüler – kein Jude! – hat das nicht zum ersten Mal gehört. Die Lehrerin guckt hilflos in den Raum. Ist diese Stunde gelaufen?
Solche Situationen sind keine Seltenheit in unseren Schulen. Beleidigungen werden unter Schülern so inflationär verwendet, dass ihnen keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt wird. Es ist bequemer, sie zu ignorieren und schnell zum Unterrichtsstoff zu finden. Besser wäre es, die Situation zu nutzen, um mit den Schülern zu sprechen – über Sprache, Gewalt und Antisemitismus.
HERKULESAUFGABE Als Lehrer war ich häufig mit Unterrichtsstörungen konfrontiert, und es war selten einfach, konstruktiv darauf zu reagieren: die Klasse beruhigen, die Grenzüberschreitung des Beleidigers deutlich machen, dem Betroffenen zur Seite stehen, das Ganze inhaltlich aufarbeiten – und auch noch zum Differentialrechnen, dem Stundenthema, übergehen. Eine pädagogische Herkulesaufgabe!
Um auf diesen Schulalltag vorbereitet zu sein, muss neben den Grundbausteinen der Pädagogik und Fach-Curricula auch Handlungssicherheit im Umgang mit Diskriminierung und Mobbing erlernt werden. Dies muss im Studium vermittelt und darf nicht mit freiwilligen Zusatzkursen abgetan werden.
Wir dürfen nicht zulassen, dass das Wort »Jude« zum Schimpfwort und der Holocaust zu einem Fremdwort wird.
Antisemitismus muss auch außerhalb des Geschichtsunterrichts oder der Gedenkstättenfahrt Thema sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Wort »Jude« zum Schimpfwort und der Holocaust zu einem Fremdwort wird. Die Vermittlung aktueller Erscheinungsformen von Antisemitismus wie auch eines Bewusstseins für deutsche Geschichte und NS-Verbrechen muss genauso deutsche Bildungsraison sein, wie die Verbundenheit mit Israel deutsche Staatsraison ist.
NACHFRAGEN Die Lehrerin in unserem Fall fand ihren Faden wieder. Durch hartnäckiges Nachfragen machte sie es dem Schüler ungemütlich: »Was heißt das – er läuft wie ein Jude? Was willst du damit sagen? Und kennst du überhaupt Juden?« Er wird es sich beim nächsten Mal zweimal überlegen, so etwas zu wiederholen.
Mit dem betroffenen Jungen gibt es nach der Stunde noch ein pädagogisches Gespräch. Die ganze Klasse wird sich in einem Workshop – vielleicht »Meet a Jew« – zusätzlich mit dem Thema auseinandersetzen. So wird aus der Belastungsprobe ein »teachable moment«: ein echtes Lehrstück.
Der Autor ist Programmdirektor der Alfred Landecker Foundation.