Das erste Mal in meinem Leben besuchte ich das Haus der Wannsee-Konferenz als Jugendlicher mit meinem Großvater, einem Holocaustüberlebenden. Ich begann damals nur ansatzweise intellektuell zu verstehen, was der Völkermord an den europäischen Juden gewesen ist und was ich damit unmittelbar zu tun hatte. Heute, mit 30 Jahren, verstehe ich diese Katastrophe in ihrem Schrecken und Wirkungskraft noch immer nicht vollumfänglich.
Es war unglaublich seltsam, mit meinem Großvater ausgerechnet an diesem Ort zu sein. Der versuchte Mord an ihm und Millionen unschuldiger Menschen wurde in den Mauern dieser prachtvollen Villa, idyllisch am Großen Wannsee gelegen, geplant und anschließend vollzogen. Mein Großvater war ein Überlebender dieses mörderischen Plans, mit der zynischen Bezeichnung »Endlösung der Judenfrage«.
In diesem Jahr jährt sich zum 80. Mal diese Konferenz von deutschen Ministerialbeamten, Angehörigen der Waffen-SS und Polizei, übrigens rund die Hälfte davon mit Doktortiteln, um den in Ausmaß und Grausamkeit nie in der Welt gesehen Plan zur Vernichtung eines Volkes zu schmieden.
VERWALTUNGSAKT Über elf Millionen jüdischer Menschen sollten beraubt, versklavt und anschließend ermordet werden. Der Leiter des sogenannten Judenreferates, Adolf Eichmann, hatte bei dem Prozess in Jerusalem ausgesagt, dass der Sinn und die Sprache der Konferenz unmissverständlich auf die Ermordung zielte. Die einzig wirklich relevante Frage für die Teilnehmer war also nur, wie und mit welcher Geschwindigkeit sowie natürlich den verbundenen Ressourcen und Kosten dieser Plan in die Tat umgesetzt werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt wurden bereits einige besetzte Länder als »judenrein« bezeichnet, was als Erfolg seitens der SS und Gestapo verzeichnet worden ist.
Wenn man Jahrzehnte später hier mit einem Überlebenden dieses Plans steht, ist man noch fassungsloser.
Ein Völkermord also als ein gut geplanter nüchterner Verwaltungsakt. Komplikationen und Herausforderungen bei Deportationen und den Erschießungen wurden, wie es die Protokolle belegen, weggelacht. Es herrschte nach Zeugenaussagen eine durchgehend heitere Stimmung.
Wenn man Jahrzehnte später hier mit einem Überlebenden dieses Plans steht, ist man noch fassungsloser, denn hinter den Listen mit den zu Ermordenden waren mein Großvater und viele Familienangehörige, die es nicht geschafft haben, lebend mit ihren Enkelkindern hier zu stehen und den salzigen Wind des Wannsees abzukriegen.
PERSPEKTIVE Bei meiner ersten Vorlesung im Masterstudiengang Verwaltungswissenschaften an der Universität Potsdam erwähnte unser Professor, dass der Holocaust, bis auf die letzte Ausführung durch SS-Schergen und ihre Helfer, ein gewöhnlicher Verwaltungsakt gewesen ist. Daran haben sich unzählige Organisationen und Personen beteiligt, seitens des Staates und auch der zivilen Verwaltung. Diese Perspektive auf den Genozid war pragmatisch und schockierend zu gleich.
Es gab in der Geschichte der Menschheit eine Vielzahl von Genoziden, insbesondere das 20. Jahrhundert war leider damit gefüllt. Dennoch gab es nichts Vergleichbares, wie die Wannsee-Konferenz im Januar 1942. Der moderne und industrielle Mord an Menschen, solchen wie meinem Großvater, war zu einer reinen bürokratischen Aufgabe verkommen. Das ist bis heute schwer zu begreifen.
Für die Teilnehmer dieser Konferenz unter der Leitung des Leiters des Reichssicherheitshauptamtes und SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich war dies eine prestigeträchtige Aufgabe, die er von dem Reichswirtschaftsminister und Chef der Luftwaffe Hermann Göring persönlich erhielt.
ZEUGNIS Die Konferenzteilnehmer hatten die Juden als Ungeziefer und Untermenschen angesehen, dessen Vernichtung elementar wichtig für den Fortbestand der arischen Rasse und Deutschlands war. Sie sahen sich als Speerspitze einer zukünftigen Elite, in der sehr viele Menschengruppen keinen Platz hatten. Es sollte der Herrenmensch herrschen und entscheiden, wer lebenswürdig und lebensfähig war.
Ich werde ihn heute nicht mehr fragen können, was ihm damals genau durch den Kopf ging.
Die Wannsee-Konferenz ist nicht nur eines der bedeutendsten Zeugnisse des Holocausts, sondern ebenso ein eindrucksvolles Testament der Tausenden Schreibtischtäter, die in die Durchführung des Völkermords verwickelt waren und davon Kenntnis hatten.
Ein Vorhaben, mit dem Ziel über elf Millionen Menschen in kürzester Zeit und auf engstem Raum zu ermorden, kann nicht geheim gehalten werden und unbemerkt bleiben. Schon allein die Beteiligung einer Vielzahl an Behörden verrät uns den großen Kreis der Mittäter dieses, wie Hannah Arendt im Jahr 1963 so treffend bezeichnete, »Verwaltungsmordes«.
GHETTO Es ist unmöglich, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt eines Holocaustüberlebenden zu begeben. Dennoch hatte ich das große Interesse meines Großvaters gesehen, noch besser zu verstehen, was ihm widerfahren ist. Er suchte auf den großen Karten der Vernichtungslager und Ghettos stets seine Heimatstadt Mogilew-Podolski, dessen Ghetto 1944 von der Roten Armee befreit worden ist.
Ich werde ihn heute nicht mehr fragen können, was ihm damals genau durch den Kopf ging. Er ist vor fünf Jahren verstorben. Vermutlich hatte er aber eine Genugtuung empfunden, diesen mörderischen Plan überlebt zu haben. Er war mehr als ein Überlebender, er hat gegen das Böse gewonnen.