Alle fünf Jahre schaut die Kunstwelt nach Kassel. Mit der »documenta« beherbergt die nordhessische Stadt seit 1955 die wohl wichtigste Großausstellung zeitgenössischer Kunst weltweit. Zu ihren geistigen Gründervätern gehörte der Kunsthistoriker Werner Haftmann (1912–1999).
Publikum Als wissenschaftlicher Berater konzipierte er die ersten drei documenta-Ausgaben mit. Die documenta 1 fokussierte sich auf die im Nationalsozialismus verfemte Kunst. Das Publikum sollte gleichsam die zuvor versäumten Avantgarden nachholen. 1967 wurde Haftmann Gründungsdirektor der Neuen Nationalgalerie in West-Berlin. Er galt als entschiedener Anwalt der abstrakten Kunst.
Doch hatte Werner Haftmann auch eine bislang wenig erforschte Schattenseite. 1937 trat er, wie kürzlich bekannt wurde, in die NSDAP ein. Haftmann soll zudem SA-Anwärter gewesen sein. Über seine Zeit als Wehrmachtssoldat ist noch immer kaum etwas bekannt. Dass er schon vor und auch nach 1945 den expressionistischen Maler und bekennenden Antisemiten Emil Nolde, der ebenfalls NSDAP-Mitglied war, förderte, ist ein weiterer wesentlicher Baustein dieser sehr deutschen Biografie.
Abstraktion Wie opportunistisch agierte Haftmann, der nach 1945 half, Nolde zum Widerständler zu stilisieren und die Abstraktion als freiheitliche Kunstdoktrin durchzusetzen?
Der Fall Werner Haftmann fügt sich in eine bemerkenswerte Reihe. Unlängst wurde auch die NS-Verstrickung des ersten Berlinale-Leiters Alfred Bauer öffentlich, der NSDAP- und SA-Mitglied war. Lange wollte der deutsche Kulturbetrieb, so scheint es, die Lebensläufe seiner Heroen vor 1945 nicht zur Kenntnis nehmen.
Was in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft längt Standard ist, hat vor allem die Kunstwelt bisweilen noch nachzuholen. Ihr Ruf als progressive, moralisch weniger belastete Sphäre könnte Schaden nehmen, wenn ihre Institutionen die Aufarbeitung verweigern.
Der Autor ist freier Journalist in Frankfurt.