Er hat also gelogen: Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat in mehreren Reden und Essays (und keineswegs nur in einem fiktionalen Roman) behauptet, der CDU-Politiker Walter Hallstein habe seine Antrittsrede als Präsident der EWG-Kommission 1958 im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz gehalten – um damit zu unterstreichen, wohin die Idee der Nation letztlich führt, nämlich geradewegs in die Vernichtung.
Mittlerweile hat Menasse zugegeben, dass er sich das bloß ausgedacht hat, nicht ohne dabei noch einmal gegen seine Kritiker auszuteilen, deren Beharren auf historischer Korrektheit doch nur den Rechten in die Hände spiele.
INSTRUMENTALISIERUNG Diese Instrumentalisierung von Auschwitz, um der eigenen Position in einer heutigen politischen Debatte moralisches Gewicht zu verleihen, ist gleich doppelt perfide. Zum einen liegt eine besondere Ironie darin, dass Menasse sich ausgerechnet Walter Hallstein als Gewährsmann für seinen Antinationalismus »wegen Auschwitz« ausgesucht hat.
Für Hallstein, der als Juraprofessor während des »Dritten Reichs« Mitglied in mehreren NS-Organisationen war, unter anderem im »Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund«, der Berufsvereinigung der Juristen in Nazideutschland, und im Zweiten Weltkrieg als Leutnant der Wehrmacht in Frankreich diente, spielte in seinem politischen Denken (auch wenn er wohl kein glühender Nazi gewesen war) Auschwitz nie eine besonders große Rolle – ebenso wenig wie für die übrigen Gründungsväter der EWG.
Zum anderen ist Menasses Geschichtsklitterung ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die aus Auschwitz ganz andere Schlüsse gezogen haben, als dass die Nation überwunden werden müsste: Der israelische Nationalstaat wurde drei Jahre nach diesem Menschheitsverbrechen gegründet, nicht nur, aber eben auch als Reaktion darauf – damit sich Ähnliches nicht wiederhole.
Wer meint, eine supranationale Welt sei trotzdem eine gute Idee, soll gerne dafür argumentieren – jedoch ohne mit einer Wiederholung von Auschwitz zu drohen.