Jens-Christian Wagner, Direktor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, hatte es gut gemeint. Er hatte den israelischen Philosophen Omri Boehm gebeten, bei der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald Anfang April zu sprechen.
Dann kam unerwartet scharfer Protest seitens der israelischen Botschaft in Berlin. Grund waren Boehms Ansichten zum Nahostkonflikt. Wagner weiß um die Geschichte dieses Ortes, er versteht seine Bedeutung gerade vor dem Hintergrund des Aufstiegs der Rechten in Deutschland. Um einen Eklat zu vermeiden, strich er Boehm wieder von der Rednerliste.
Dennoch stelle nicht nur ich mir die Frage, warum Wagner überhaupt beschlossen hat, den seit längerem sehr umstrittenen Philosophen einzuladen. Sicher, Boehm gilt als neuer Fixstern am Firmament und wird gern zurate gezogen, wenn es darum geht, den Deutschen (und dem Rest der Welt) Israel zu erklären.
Dabei ist Boehms Idee zur Lösung des Nahostkonflikts ziemlich simpel: Da die Zweistaatenlösung nicht funktioniert hat, schlägt er eine »Einstaatenlösung« vor. Die deklariert er in guter Philosophenmanier als seine »Utopie«. Wie großartig genau das anderswo funktioniert hat, kann man noch im Libanon oder im früheren Jugoslawien bestaunen …
Der Deutschen liebste Israel-Erklärer
Boehm ist dennoch zum Liebling des deutschen Feuilletons avanciert. Er ist ein Darling der Linken, der Wissenschaft, der Kunst- und Kulturszene und erhält regelmäßig Preise für seine Beiträge zur »Erklärung« des Nahostkonflikts, besonders für ein deutsches Publikum.
Doch da gibt es ein Problem mit Boehm. Er repräsentiert nur eine kleine Minderheit der israelischen Gesellschaft. Tatsächlich hat es die Partei in Israel, die seinen politischen Vorstellungen am nächsten steht, bei den letzten Wahlen nicht einmal ins Parlament geschafft.
Doch die deutschen Medien und Eliten versuchen weiter stur, Israel nur durch die Brille von Leuten wie Boehm zu verstehen. Er ist natürlich nicht der einzige, er hat Gleichgesinnte: Yuval Noah Harari, Meron Mendel, Etgar Keret und Nimrod Aloni zum Beispiel. Und tut sich mal eine Lücke auf, darf man getrost darauf vertrauen, dass »Die Zeit« oder die »Süddeutsche Zeitung« sie schnell wieder schließen, wie der Fall Fabian Wolff gezeigt hat …
Gut, ich gebe zu, das war jetzt polemisch. Doch ich frage mich schon seit langem: Warum ignorieren die Deutschen so konsequent den Facettenreichtum der israelischen Gesellschaft? Meine Antwort ist: Weil sich die Mehrheit in Wahrheit nicht die Bohne für die Komplexität der israelischen Gesellschaft und für ihre politischen Strukturen interessiert. Boehm ist den Deutschen »der akzeptable Jude«, der gute Israeli.
Idiotisch und gefährlich
Wie er auch, pflegen die meisten hierzulande eine utopische Sicht auf Israel. In dieses Weltbild passen nur gebildete, säkulare, linksliberale, aschkenasische Juden. Und in diesem Weltbild trägt Israel die Hauptschuld, wenn etwas im Nahen Osten schiefläuft. Die Palästinenser sind immer die Opfer und nicht verantwortlich für ihr eigenes Handeln.
Dass Boehm und Co. stellvertretend für Israel stehen, dass sie das Land quasi repräsentieren, ist nicht nur falsch und geradezu idiotisch. Es ist auch gefährlich. Warum es idiotisch ist? Stellen Sie sich vor, all jene Deutschen, die in den israelischen Medien über die Situation in Deutschland sprächen und die Lage hier erklärten, stünden für eine Richtung, die nicht einmal fünf Prozent Wählerschaft repräsentierte. Das ergäbe ein sehr verzerrtes Bild der Wirklichkeit.
Ja, das deutsche Publikum zeigt großes Interesse an Israel. Aber offenbar akzeptiert es, dass ihm ein verzerrtes Bild aufgetischt wird. Denn was Boehm und seine Freunde den wohlmeinenden Lesern präsentieren, ist eine Schimäre, ein idealisiertes Bild von Israel, das jedes Mal zerbricht, wenn das wirkliche Israel ein neues Parlament wählt.
Nun kann es ja passieren, dass man Fehleinschätzungen aufliegt. Aber ständig? Genau das meine ich, wenn ich sage, dass das nicht nur idiotisch, sondern auch gefährlich ist. Als ich jüngst für meine Zeitung in Israel über den Antisemitismus an deutschen Universitäten und in der Nachtclubszene berichtete, sagten mir viele junge Leute, es gäbe doch eine einfache Lösung für den Nahostkonflikt: Die Juden müssten die Region wieder verlassen und in ihre Herkunftsländer zurück, dann sei das Problem gelöst.
Die Vielfalt Israels wird von Deutschen gerne ausgeblendet
Als ich erwiderte, dass meine Eltern ursprünglich aus dem Iran stammten und das nun wirklich kein Ort für mich wäre, wo ich leben könne, verzogen sie das Gesicht. Sie wussten schlicht nicht, wovon ich redete. Ihr Bild von Israelis und dem Staat Israel war und ist nämlich das idealisierte Bild der Boehms und Mendels. Die Avrahamis kommen darin nicht vor.
Die deutschen Medien machen sich ihr Israel, wie es ihnen gefällt. In ihrer Welt gibt es keine israelischen Araber, keine orientalischen Juden, keine Drusen, keine Beduinen, keine Äthiopier. Es gibt auch keine (Ultra-) Orthodoxen, keinen Rassismus gegenüber orientalischen Juden oder Probleme mit Diskriminierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Für sie gibt es nur Omri-Boehm-Israelis. Demzufolge gelten auch nur deren Lösungsansätze als relevant, beispielsweise für den Umgang mit den Palästinensern.
Vielleicht wollen die Deutschen auch gar nichts anderes hören. Vielleicht wollen sie das wahre Israel gar nicht sehen, wollen es in seiner Vielfalt und Komplexität nicht verstehen. Wie dem auch sei: Die Wirklichkeit ist manchmal anders, als sie auf Gedenkfeiern und in den Feuilletons deutscher Zeitungen dargestellt wird.
Der Autor ist Deutschland-Korrespondent der israelischen Tageszeitung Yediot Ahronot und lebt in Berlin.